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718 Psychische Studien. XXXIII, Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1906.)
Erblichkeit besteht, durchaus keine vollkommene ist. Karma
bedeutet das Fortleben nicht derselben zusammengesetzten
Individualität, sondern ihrer Tendenzen, die sich rekombinieren
, um neue zusammengesetzte Individualitäten zu
bilden. Das neue Wesen muss nicht notwendig eine menschliche
Form annehmen. Das Karma vererbt sich nicht von
den Eltern auf die Kinder; es ist vou der Erblichkeit unabhängig
, obgleich die physische Beschaffenheit von dem
Karma abzuhängen scheint/' — Aber dass im Grunde genommen
Buddhismus und abendländische Wissenschaft in
diesem Punkte dennoch einig sind, erhellt aus einer andern
Stelle desselben Buches: „Das letzte Geheimnis der kon-
zentrativen und schöpferischen Wirkungen des Karma erkennt
der Buddhismus ais unerforschlich, aber den Zusammenhang
der Wirkungen erklärt er als von „Tanha",
dem Lebenswunsch, bewirkt, dem entsprechend, was Schapen-
hauer den „Lebenswillen" nannte. In Herbert Spencers
Biologie findet sich ein seltsames Analagon zu dieser Idee.
Er erklärt die Uebertragbarkeit der Anlagen und ihrer
Variationen durch eine Theorie von Polaritäten — Polaritäten
der physiologischen Einheit. Zwischen dieser Theorie
der Polaritäten und der buddhistischen Theorie des Tanha
ist die Verschiedenheit viel weniger hervorstechend als die
Aehnlichkeit Karma oder Vererbung, Tanha oder Polarität
sind in ihrem letzten Grunde unerklärlich; Buddhismus
und Wissenschaft sind hier einig. Das Bemerkenswerte
ist, dass beide dasselbe Phänomen unter verschiedenen
Namen erkennen."
Von dem Philosophen Spencer sagt derselbe ferner in
völliger Uebereinstimmung mit unserer Auffassungsweise,
indem er sich bemüht, zugleich den Anschauungen der
Wissenschaft und des Buddhismus gerecht zu werden:
„ Spencer war auch derjenige, der uns zeigte, dass Worte
wie „Instinkt", „Intuition" in der alten Bedeutung keinen
richtigen Sinn haben. Sie müssen demnach künftighin in
einer ganz andern Bedeutung angewendet werden. Instinkt bedeutet
in der Sprache der modernen Psychologie „organisch
gewordenes Gedächtnis", und das Gedächtnis selbst „beginnenden
Instinkt**, — die Summe der Eindrücke, die sich
in der Kette des Lebens auf das nächstfolgende Individuum
vererben soll. So erkennt die Wissenschaft das ererbte
Gedächtnis nicht in dem geheimnisvollen Sinne einer Erinnerung
an Einzelheiten aus einem früheren Leben, sondern
als einen winzigen Zuwachs zum psychologischen
Leben, das von kaum wahrnehmbaren Veränderungen in
der Struktur des ererbten Nervensystems begleitet ist. Das
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