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Freudenberg: Ueber „Gruppenseele* u. a. „psychische* Fragen. 719
„menschliche Gehirn" ist eine systematisierte Tabelle unendlich
zahlreicher, in der Evolution des Lebens empfangener
Erfahrungen, oder eigentlich, während der Evolution
jener Eeihe von Organismen, aus denen sich der menschliche
Organismus heraus entwickelt hat. Die Resultate der
gleichartigsten und häufigsten dieser Erfahrungen haben
sich successive als Kapital und Interessen vererbt, und sind
allmählich zu jener hohen Intelligenz herangewachsen, die
in dem Gehirn des Säuglings latent liegt, — und die dieses
Kind in seinem späteren Leben betätigt, und vielleicht verstärkt
oder weiter kompliziert, und mit kleinen Hinzufügungen
der nächsten Generation vererbt." — Ist auch hier
kein direkter Bezug auf das vererbende Sammelprinzip der
Kollektivseele genommen und verfolgt Hearn den Vorgang
der Vererbung nur in der direkten Linie, so entspricht
doch seine Darstellung allzusehr unserer Auffassung von
der Sache, als dass wir von einer Anführung der betreffenden
Stelle hatten Abstand nehmen zu dürfen geglaubt
. Dieser Hearn, wie hier in Parenthese bemerkt sei,
ist ein interessanter Mensch: Sohn einer Spanierin und
eines in den Kolonien lebenden Engländers, selbst an der
Seite exotischer Frauen sein Lebensglück suchend, zeigt er
speziell für das Wesen des japanischen Geistes und der
japanischen Kultur ein ebenso tiefes und feines Verständnis,
eins ebenso liebevolle Hinneigung wie er sich von allem
abendländischen Geiste unwillkürlich abgestossen fühlt
Jedenfalls darf er, die Japaner selbst nicht ausgeschlossen,
als einer der allerintimsten Kenner des Orients gelten.
Wäre Hearn mit der zeitgenössischen Psychologie des
Abendlandes vertrauter, als er tatsächlich gewesen ist (er
ist leider unlängst gestorben und Spencer scheint ziemlich
einseitig seine hauptsächliche Belehrungsquelle hierüber gebildet
zu haben), so würde ihm nicht entgangen sein, dass
die occidentalische Welt bereits auf dem von ihm vorausgesagten
Wege der Kevidierung ihrer Auffassung über das
Selbst und der Annäherung an die morgenländischen Vorstellungen
davon ziemlich weit vorangeschritten ist. Dass die
zeitgenössische Wissenschaft, gezwungen durch die Tatsachen
in Medizin und Psychologie, mit den Begriffen „Spaltung
der Persönlichkeit", „Verdoppelung" oder gar „Vervielfältigung
der Persönlichkeit" operiert, erscheint in dieser
Beziehung hochbedeutsam.
Es gibt bei uns keinen psychologisch geschulten Philosophen
oder Mediziner mehr, der auf Grund unserer hypno-
logischen und suggestiven Tatsachenbeobachtungen leugnete
oder wenigstens mit Eecht leugnen könnte, dass das, was
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