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Freudenberg: üeber „Gruppenseele* u. a. „psychische* Fragen. 721
lieh geworden ist, was kann der noch auf Erden wollen
oder dort auch nur vorstellen? Dazu bedarf es eben der
»Persönlichkeit". Doch mögen dies die Buddhisten unter
sich ausmachen.
Räumt die Wissenschaft auch mit den alten Vorstellungen
über Persönlichkeit und persönliche Unsterblichkeit
radikal auf, so hat doch das Sprüchwort Unrecht, wenn
es von einer „bitteren" Wahrheit spricht. Diese Bitterkeit
ist nur eine scheinbare. Denn auf die Dauer befriedigt
nur die Wahrheit. Und dann: die Wissenschaft stellt nur
die alten Begriffe klar, sie zerstört sie nicht, d. h. ihre
Grundlagen bleiben erhalten und fähren zu neuen Bildungen
. Durch jeden Fortschritt in der Erkenntnis werden
die Begriffe nur geklärt, verfeinert, erleuchteter. Das
eigentliche Wesen unseres „Selbst", unser unsterblicher Anteil
am Weltganzen, am Ewigen, am Göttlichen schält sich
immer reiner, immer überzeugender bei dem Portschreiten
der Naturerkenntnis Heraus. Und statt die „Religion" umzustürzen
, vertieft die moderne Wissenschaft dieselbe und
gewinnt von Tag zu Tag höhere Gesichtspunkte für sie,
je mehr sich unserem Geiste das Universum erschliesst und
uns seine Grösse ahnen lässt. —
Ich habe bei meinen Ausführungen mehr vom Buddhismus
gesprochen, als ich ursprünglich beabsichtigte und
dachte. Als Freund des Friedens und der Eintracht freus
ich mich konstatieren zu können, dass die neuere indische
Literatur in der Anlehnung an die abendländische kritische *
philosophische Forschung und die exakte Naturwissenschaft
eine Förderung, eine bessere Fundamentierung und einen
willkommenen Ausbau ihrer eigenen Ideen sieht, und dass
andererseits unsere geläuterten Anschauungen über das
Wesen des Selbst und über andere verwandte Punkte sich
im Grunde genommen von Tag zu Tag mehr den östlichen
Vorstellungen nähern. So darf ich denn wohl meinen
kleinen Aufsatz mit den Worten schliessen, die Goethe seinem
westöstlichen Divan widmete:
„Wer sich selbst und andere kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Occident
Sind nicht mehr zu trennen." —
Psychische Studien Dezember 1906
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