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Kaindl: Persönlichkeit und Wandlungen der Persönlichkeit. 27
sind, sondern wir haben auch das Bewusstsein, dass wir
nicht jemand anderer sind. Das Bewusstsein zu haben,
einer selbst zu sein und niemand anderer, das ist „Persönlichkeit
^.
Man möge uns wenigstens vorläufig diese Definition
gelten lassen. Wir wollen damit sagen, dass wir eine Persönlichkeit
besitzen, weil wir ein Bewusstsein haben,
welches sich selbst besinnt, sich selbst prüft, sich selbst zu
ergründen sucht und das sich selbst von anderen unterscheidet
.
Es gibt jedoch noch andere Zustände, welche dazu
beitragen, diese Persönlichkeit zu gestalten; denn künstlich
herbeigeführte Persönlichkeitsveränderungen werden uns
zeigen, bei welchen Modifikationen diese Wesenheit, die
uns ganz einfach erscheint, in ihre Bestandteile zerlegt und
gesondert wird.
Wir werden sogleich sehen, dass unsere Persönlichkeit
keine völlig einfache Erscheinung ist, denn sie ist aus bestimmten
, sehr unterschiedlichen Elementen zusammengesetzt
. Vor allen Dingen gibt es einen Grundbestandteil,
ohne welchen die Persönlichkeit nicht besteht: das ist das
Gedächtnis. Wenn jemand von uns die Erinnerung an
alles, was er getan, gesehen und gehört hatte, vollständig
verlöre, so würde seine Persönlichkeit verschwunden sein;
er würde nicht länger mehr seinen Namen, sein Vaterland
wissen, nichts würde für ihn mehr vorhanden sein, mit
Ausnahme seines gegenwärtigen Zustandes, was etwas sehr
Vages (Unbestimmtes) bedeuten würde. Wir sind in Wirklichkeit
nur wir selbst, weil wir uns unserer Vergangenheit
erinnern. Unsere ganze Vergangenheit lebt in uns, wirkt
auf uns zurück, gibt uns die Vorstellung von uns selbst,
macht uns zu einem besonderen, von allen anderen unterschiedenen
Wesen, und verbindet vermittelst einer langen
Kette, welche in keinem ihrer Glieder einen Bruch hat,
das Ganze unserer langen Vergangenheit mit dem kurzen,
gegenwärtigen Augenblick.
Wenn wir ein hohes Alter erreicht haben, so sind wir
nicht länger eine Person, welche mit jener, die wir in der
Kindheit, in der Jugend oder im reiferen Alter waren,
identisch ist. Da jedoch in keinem Augenblicke jenes
langen Zeitraumes eine psychologische Unterbrechung
zwischen den vorhergehenden und den gegenwärtigen Zuständen
bestanden hat, so sagen wir, dass wir immer dieselbe
Person geblieben sind. Dieses ist nicht völlig richtig;
denn wenn wir, auf unsere eigene Vergangenheit selbst
zurückblickend, uns vorzustellen versuchen, was wir vor
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