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28 Psychische Studien. XXXV. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1908.)
zehn oder zwanzig oder vierzig Jahren gewesen sind, so
bemerken wir bei uns selbst solche Unterschiede, dass, wenn
wir Briefe oder Denkschriften aus unserer Vergangenheit
finden, es uns schwer wird, zu entscheiden, ob sie dieselbe
Person betreffen. Gesetz, Sitte und Rechtswissenschaft
weisen auf diese fortschreitende Abnahme ohne Bruch der
Persönlichkeit hin, denn unsere Verantwortlichkeit für die
Vergangenheit fährt fort abzunehmen im Verhältnis, wie
die Zeit vorschreitet. Es gibt, wie der Jurist sagt, eine
Verjährung, dass soll heissen, dass wir am Ende einer bestimmten
Zeit nicht mehr für das verantwortlich sind, was
wir früher taten.
Es würde mir in der Tat höchst ungerecht erscheinen,
dass ich für das, was ich vor dreissig Jahren tat, vollkommen
verantwortlich gehalten werden würde, weil in mir
solch gründliche Verwandlungen vor sich gegangen sind:
neue .Erinnerungen sind in unberechenbarer Anzahl entstanden
, alte sind entschwunden; Gefühle, Empfindungen
und Ansichten haben sich derart verändert, dass tatsächlich
eine vollständige Umwandlung Platz gegriffen hat.
Meine Persönlichkeit ist dieselbe geblieben, weil ich den
Augenblick nicht genau anzugeben vermag, in welchem
sie gesichtet worden ist und eine andere^ wird, und
doch ist die Persönlichkeit von heute nicht einerlei
oder gleichbedeutend mit der Persönlichkeit vergangener
Zeiten.
So tritt auf den ersten Blick die wichtige Tatsache
hervor, dass der Persönlichkeitsbegriff, welcher so klar erscheint
, in Wirklichkeit sehr hinfällig ist, weil er mit der
Zeit unauflöslich verknüpft ist; indem wir nicht sagen
können, dass wir Menschen von vorgeschrittenem Alter dieselben
sind, die wir früher waren oder die wir in einem
Zeitraum von 15, 20 oder 30 Jahren sein werden.
Es ist also hinlänglich festgestellt, dass das Gedächtnis
die wahre Grundlage der Persönlichkeit ist.
Sie werden sogleich ersehen, dass von dem Augenblick an,
wo die Kette abgerissen ist, die Persönlichkeit dabei verschwindet
. Um ein Beispiel zu gebrauchen, welches in
seiner Art experimentell ist, da uns der Hypnotismus in
derv Stand setzt, künstliche Veränderungen der Persönlichkeit
hervorzurufen, lassen Sie uns eine Person annehmen,
die zweier Sprachen, z. ß. der französischen und italienischen
, mächtig ist, und lassen sie uns ferner voraussetzen,
dass diese Person in einem gegebenen Moment die französische
Sprache vollständig vergessen hat und dieselbe
weder mehr sprechen noch verstehen kann. Diese partielle
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