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32 Psychische Studien. XXXV. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1908.)
ganzes Gehaben zu verändern, und dies ohne jeden pathologischen
Anstrich, ohne eine Spur von Hysterie, oder
Krankheit, bloss durch den einfachen Tatbestand eines
äussern Wechsels in den Empfindungen, von denen sie umgeben
ist.
Auch sind äussere Empfindungen hierzu nicht immer
von nöten. Einbildung allein gentigt, die Persönlichkeit
zu modifizieren. Wenn ein dramatischer Schriftsteller verschiedene
Charaktere sprechen lässt, so schlüpft er, wie
man sich gewöhnlich ausdrückt, „in die Haut" dieser Personen
. Er kann nach Belieben ein kleines Mädchen oder
einen alten Mann sprechen lassen. Wenn er uns Shylock
oder Harpagon schildert, so nimmt er den Geist eines alten
jüdischen Kaufmannes oder eines Geizhalses an, wenn er
Caesar, Brutus oder Antonius sprechen lässt, so versetzt er
sich in den Geist jener Personen, die er sprechen lässt, und
wird abwechselnd Caesar, Brutus und Antonius. Die
grössten Künstler sind eben jene, welche sich am vollkommensten
* in die Seele der Persönlichkeit, die sie darstellen
, zu versenken vermögen. Sie wissen, mit welcher
vollendeten Kunst Viktor Hugo kleine Kinder sprechen
lässt, es scheint dann, als ob er selbst die Seele eines
Kindes angenommen und seine Persönlichkeit sich für den
Augenblick verwandelt hätte. In Moliere's „Der Geizige*
trägt Meister Jakob den Harpagon: nWünschen Sie mit
Ihrem Kutscher oder mit Ihrem Koch zu sprechen?* Und
der Antwort entsprechend legt er bald den Anzug des
Kutschers, bald jenen des Koches an. Er hat verschiedene
Ausdrucks weisen und Gedanken, je nachdem er
mit des Kutschers Kragenmantel oder mit der weissen
Schürze des Koches bekleidet ist. —
Wenn die Persönlichkeit sogar im normalen Zustande
wechselt, wie mag sie erst durch physiologische oder pathologische
Einflüsse verändert werden? Es wird genügen,
mich auf Ihre eigene Erfahrung zu berufen, die Sie nach
einem guten Diner, ohne dabei eine ungewohnte Menge
alkoholischer Getränke genossen zu haben, gemacht hatten,
weil da mit einem Male unsere ganzen Gedanken verändert
werden.
Wir sehen die Welt durch rosenfarbige Gläser
an. Alle Schwierigkeiten sind entfernt, alles erscheint
hell. Wir sind in einem Geisteszustand, der von der ver-
driesslichen Stimmung, in der wir uns vor diesem angenehmen
Mahle befanden, vollständig verschieden ist. Wir
werden tatsächlich eine andere Person, und doch bleibt die
Persönlichkeit in dem Sinne dieselbe, dass wir unsere In-
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