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54 Psychische Studien. XXXV. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1908.)
mit Petroleum füllen. Es wurde bald ganz behaglich, als
ich mit gutem Appetit gegessen und der glühende Ofen die
kleine Stube, die dem arbeitenden Peripatetiker nur ein
paar Quadratfuss Kaum für seine nachdenklichen Kundgänge
gewährte, gehörig durchwärmt hatte.
Die Arbeit schritt rüstig voran. loh arbeitete mit
voller Lust, angestrengt und aufgeregt, war ganz und gar
bei der Sache, kümmerte mich nicht um Raum und Zeit,
wusste kaum, wo ich war, sah nicht nach der Uhr und
rauchte ununterbrochen. Je mehr ich dem Schluss, den ich
nun deutlich vor Augen sah, mich näherte, desto stärker
wurde meine Erregung.
Ich hatte bis dahin noch nie einen Menschen sterben
sehen. Die Heldin meines Dramas Hess ich — wie das
traurige Urbild der Wirklichkeit — an der unerbittlichen
Krankheit zugrunde gehen. Meine Phantasie spiegelte mir
ein wahrhaft grausiges Schreckensbild vor. Ich fühlte mich
von einem Fieberschauer durchrüttelt, als ich die Schlussworte
schrieb: „Sie stehen vor ihrer Leiche!"
Wie von einem Alpdruck befreit, atmete ich auf, während
ich unter das fertige Manuskript die geschwungene
Schlusslinie ziehen wollte.
Im selben Augenblicke dröhnte mir im Gehirn ein
mächtiger metallener Ton, als ob mir im Schädel eine gewaltige
Spirale gesprungen wäre, — mit summendem Nachklang
wie nach dem Anschlag einer Domglocke. Ich fuhr
zusammen. Und mitten im -Schwünge der Schlusslinie
rückte mir die Hand mit der Feder jäh nach unten und
zog einen krackeligen, klecksenden Strich. Ich sprang auf.
Da hörte ich die kleine Pendeluhr auf dem Kamin schlagen.
Ich zählte. Noch sechs Schläge, leise, hell, silbern. Die
Uhr wies die siebente Morgenstunde. Es war der erste
Schlag gewesen, der in unwahrscheinlicher Verstärkung auf
meine überspannten Sinne so schreckhaft gewirkt hatte.
Während meiner Arbeit hatte ich das Ticktack und
das Schlagen der Uhr, die pflichtschuldig jede Stunde gemeldet
hatte, überhört. Jetzt, da ich mit dem letzten Aufgebot
meiner Spannkraft den Schluss erreicht hatte, während
sich gleichsam alle meine Nerven zur Ruhe streckten,
wurde ich darch den ersten Schlag, den ich wieder hörte,
jählings aufgeschreckt, und der helle Silberton wirkte auf
meine Ueberreizung unheimlich wie wildes Gretöse und das
Läuten der Sturmglocke.
Meine Schläfen hämmerten, meine Stirn glühte, ich
taumelte wie ein Trunkener und musste mich an der Stuhllehne
festhalten. Kein Wunder. Auch ein völlig Ge-
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