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Lindau: Ein wunderbares Erlebnis
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sui)der in normalem Zustand würde es in dieser entsetzlichen
Atmosphäre kaum ausgehalten haben und einer
Ohnmacht nahe gebracht worden sein. Der Ofen war seit
Stunden ausgebrannt. Ich hatte natürlich nicht daran gedacht
, Kohlen nachzulegen, wie mir der Heizer empfohlen
hatte. Es war eisig kalt. Das Petroleum war aufgezehrt,
der Docht schwelte mit widerwärtigem Geruch. Das ganze
Zimmer war vom dicken Tabaksqualm nebelig wie von
einem sackgrauen Leilach eingehüllt. Ich riss das Fenster
auf und liess mir den spitzen kalten Sprühregen, der mir
wohl tat, ins Gesicht schlagen.
Nach einer Weile trat ich ins Zimmer zurück. Der
Tabaksqualm und der Dunst der blakenden Lampe hatten
sich verzogen. Ich schloss das Fenster und klingelte.
Der Kellner, frisch gewaschen und gekämmt, mit verschlafenen
Augen, im schäbigen Frack, der um diese
Stunde merkwürdig auf mich wirkte, hatte ziemlich lange
auf sich warten lassen. Ich bestellte ihm das Frühstück
und gab ihm eindringlich bestimmte Weisungen: ich hätte
die Nacht durchgearbeitet, wolle mich jetzt schlafen legen
und absolut ungestört sein; ich sei für keinen Menschen zu
Hause — auch nicht für den Geldbriefträger, den ich
übrigens nicht erwartete.
So todmüde war ich, dass ich mich nicht einmal
meiner quantitativ ungewöhnlich starken Leistung freuen
konnte. Ich hatte mit geringen Unterbrechungen an die
zwanzig Stunden hintereinander gearbeitet, in der einen
Sitzung den ziemlich langen vierten Akt geschrieben und
war mit dem Stück („ Marionu) so gut wie fertig. Das war
viel mehr, als ich für möglich gehalten hatte. Daran dachte
ich jetzt kaum, ich dachte eigentlich an gar nichts. Schwerfällig
hatte ich mich entkleidet und lag nun da in bleischwerer
Mattigkeit. Aber ich konnte nicht einschlafen.
Wie lange ich mich herumwälzte, bis sich endlich
meine Sinne verwirrten und das ßewusstsein mir schwand,
vermag ich nicht zu sagen; mich dünkte es eine Ewigkeit.
Dann aber verfiel ich in tiefen, tiefen Schlaf. Ich weiss
auch nicht, wie lange ich schlief. Ich empfand eine ver-
driessliche Störung. Ich hörte im Halbschlaf ein gleich-
mässiges, immer wiederholtes Pochen, das immer lauter zu
werden schien; ich wollte mich nicht darum kümmern, da
es mir ja nicht gelten konnte. Aber es pochte so lange,
bis ich endlich wach wurde. Und nun war's mir unzweifelhaft
, man klopfte wirklich an meine Tür. Aergerlich rief
ich vom Bette aus: „Wer klopft denn da?" — »Der
Depeschenbote!" kam die i^ntwort vom Flur. Depeschen
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