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62 Psychische Studien. XXXV. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1908.)
Beobachter ganz anders an! Wenn man wie Verf. höhere, übermächtige
Wesen oder gar zu oberst einen allmächtigen, allwissenden
Gott annimmt, der durch einen blossen Willensakt alle jene, dem
edelfühlenden Menschen die Seelenruhe raubenden Ungeheuerlichkeiten
durch einen blossen Willensakt verhindern könnte, so kommt
man eben auf unlösbare Widersprüche, deren restloser Entwirrung,
wie schon Kant unwiderleglich — für den Herrn Verf. freilich vergeblich
— bewiesen hat, die reine Vernunft des schwachen Menschen
nicht gewachsen ist. Weit befriedigender in moralischer Hinsicht
ist doch die (vom Verf a. 1. gewürdigte) theosophische Karmalehre,
wornach jedes Lebewesen lediglich die Folgen eigenen Wollens und
Tuns aus einem Vorleben zu tragen hat, eine Weltauffassung, die, wenn
sie auch im einzelnen Fall wohl ebensowenig beweisbar ist, doch den
unverkennbaren Vorzug besitzt, jeden Einzelnen im praktischen Leben
zur Vermeidung und energischen Bekämpfung des Bösen anzuspornen
, um sich selbst fürs nächste Dasefn ein besseres „Karma*
zu schaffen, während es nach Müller'% Theorie streng genommen
keinen Sinn hätte, ja unzulässig erschiene, die höchste Zwecke
verfolgenden Uebel aus der Weit schaffen zu wollen.*) — Das
Schlusskapitel enthält einen „ Arbeitsplan des Kulturforscherbundes*,
dessen Aufgabe darin bestehen soll, in regelmässig erscheinenden
Flugschriften die Ideen des Verf. als „Konstrukteur eines eigenartigen
, voraussichtlich brauchbaren Schlüssels zum Aufschliessen
aller Hauptlebensrätsel * zu kritisieren, bezw. zu ergänzen und so in
vollster Gedankenfreiheit einen „Kulturarbeiter-Kongress in Permanenz14
zu schaffen. — Der an erster Stelle genannte „ Nachtrag" zeigt
wiederum die in unserem eingehenden Referat über die „Kultur-
fundameBte* genügend betonten Vorzüge der schriftstellerischen
Tätigkeit des Herrn Verf. und gab ihm auch Gelegenheit (S. 52 ff.),
sich über die dort (Maiheft v. J., S. 320 ff.) geäusserten Bedenken
des Unterzeichneten auszulassen. Er tut dies in Form eines Protestes
, der aber nur beweist, dass er so ziemlich alle Haupteinwände
missverstanden hat. Dass auch wir stilistische u dgl. „Entgleisungen
* gegenüber seinem höchst anerkennenswerten Streben ausdrücklich
als völlig nebensächlich bezeichneten, scheint Verf. übersehen
zu haben. Wenn er nun aber u. a. mit dem bekannten Eigensinn
selbständig denkender und „konstruierender* Autodidakten an der
entschieden falschen Wortbildung „Analogik* festhält und sich dabei
auf die „Analogie* von „Logik* beruft, so beweist er in den
Augen des Sachkenners damit nur — woraus ihm bei der von ihm
selbst betonten Mangelhaftigkeit seiner Schulbildung kein billig
Denkender einen Vorwurf machen wird, — dass er von philologischer
Wortbildungslehre nichts versteht Logik* vom adjektiv:
iogica sc. ars, die logische Kunst, richtig zu denken; „Analogia*
Aehnlichkeit, Substantiv, griech. u. lat.). Dann sollte man sich
aber doch wohl von den besser Wissenden belehren lassen! —
Ebensowenig haben wir bestritten, dass genaue Einzelforschung,
*) Mit beissendem , aber schlagendem Spott illustrierte diesen speziell
den Verteidigern der Vivisektion zusagenden Zweckmässigkeits-
standpunkt jüngst das Münchner Witzblatt „Simplizissimus" in seiner Tiernummer
vom 2. September 07 , indem es das langsam zu Tode gemarterte
Kaninchen sagen iässt: „Meine Leiden sind gross, aber ich ertrage sie gern,
denn ich weiss, dass sie notwendig sind, damit der Mensch Professor wird u
— Man könnte ja einem zukünftigen „Edelnapoleoniden" empfehlen , sich
freiwillig einem Vlvisektor zur Verfügung zu stellen, um den Gipfel sittlicher
Reife und Gottähnlichkeit möglichst rasch zu erreichen. — Red.
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