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72 Psychische Studien. XXXV. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1908.)
/ Ist die Richtigkeit der spiritistischen Hypothese un-
' er8chütterlich begründet? Bei weitem nicht! Fast sämt-
siche Gelehrte, die Mehrzahl der strengen Kritiker, welche
sich mit diesen Fragen beschäftigen (die anderen kommen
nicht inbetracht), sind nicht dieser Ansicht, Ich für meinen
Teil konnte mich von einer guten Begründung der spiritistischen
Hypothese nicht nur nicht überzeugen, sondern
ich bekenne ohne Umstände, dass ich mich eher mehr von
dieser Theorie entfernt, als mich ihr genähert habe. Warum
das? Es sind nicht die ziemlich banalen Gründe, welche
Prof. Morselli aus einem Buche von M. G. Negri zitiert hat
[„dass die Albernheiten der sog. Geister uns diese Hypothese
nicht als trostbringend für unsere heiligsten Gefühle
erscheinen lassen; dass die Hypothese unserer menschlichen
Würde nicht schmeichle" usw.]
Ich lege auf diese Gründe so wenig Gewicht, als auf
jene Beweisführung, die uns zu überzeugen glaubt, wenn sie
uns fragt, ob wir den Tieren gleich sein wollen, wenn uns
nicht alles daran liegt, eines schönen Tages wieder mit
unseren Lieben vereinigt zu werden. Es handelt sich nicht
um das, was wir wünschen, sondern um das, was ist.
Es handelt sich auch nicht darum, darüber zu jammern,
dass die Menschen, welche oft in diesem Leben nicht eben
durch ihre Intelligenz glänzen, nicht ipso facto nach dem
Tode die herrlichsten Eigenschaften erwerben, oder dass sie
sich mit Tischrücken beschäftigen, statt Lieder zu singen
um den Thron des Allerhöchsten, wie die Engel in Mittori s
Paradiese. Wir dürfen die Domäne der Experimental-
Wissenschaft nicht verlassen, um in jene der Metaphysik
oder der Theologie zu fallen!
Aber gerade vom Experimental - Standpunkt aus sind
die von uns gesammelten Beweise in meinen Augen bisher
ungenügend. Vor allem kann man nicht begreifen, warum
jene Beweise immer nur fragmentarisch und lückenhaft,
ja selbst mit Irrtümern gemischt sind. Die verstorbenen
Personen, welche manchmal erstaunliche Beweise ihrer
Identität geben, verraten geheime Einzelheiten ihrer Existenz
, sprechen genau so, wie es die fragliche Persönlichkeit
in ihrem Leben getan haben würde: und dann können
sie uns den Namen ihrer Frau oder ihres Kindes nicht
sagen, oder andere Dinge von wesentlicher Bedeutung, was
uns völlig verwirrt. Ich kenne wohl die vielleicht richtigen
spiritualistischen Theorien, mit welchen man uns jene Lücken
in der Intelligenz der Persönlichkeiten aus dem Jenseits erklären
will; aber ich gestehe, dass mein Verstand nur mit
Mühe Existenzformen annehmen will, die so verschieden
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