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Kaindl: Persönlichkeit und Wandlungen der Persönlichkeit. 101
Zuvörderst müssen wir der merkwürdigen Berichte
Erwähnung tun, welche über spontan erfolgte Persönlichkeitsverwandlungen
schon früher gebracht worden sind.
Es gibt einen berühmten Fall, der unter dem Namen
„FelidarFsW1 bekannt ist und von Äzam von Bordeaux beobachtet
wurde. Obschon dieser Fall kein vereinzelter ist,
verdient er doch besondere Aufmerksamkeit, weil er sehr
sorgfältig zergliedert worden ist. Feiida führte sozusagen
zwei verschiedene Dasein, und in jeder dieser Existenzen
vergass sie die vorhergehende.
Zuweilen war sie eine sehr lebhafte und rührige Person
; zu Zeiten war sie schlaftrunken, träge, unfähig ihre
Glieder zu bewegen, hatte sehr wenig Gedanken und be-
sass nur geringe Intelligenz. In dem ersten Zustand, den
wir Zustand „A" nennen wollen, erinnerte sie sich an
nichts, was sie im Zustand „Ba getan und gedacht hatte,
es schien, als ob zwei gänzlich verschiedene Personen vorhanden
wären. Feiida „ A tf und FeUda „ B a standen zueinander
in keinerlei Beziehung, weil das Gedächtnis nicht
verknüpfte, was diese beiden Persönlichkeiten, in welche
sie getrennt war, gedacht und getan hatten.*)
Nehmen Sie für einen Augenblick an — und es ist
das, was ich als Beispiel anführen will, eine Art Schema
—, dass Sie das, was Sie gestern taten, völlig vergessen
haben, und dass Sie morgen keine Erinnerung von dem
haben, was Sie heute getan haben, während Sie sich vollkommen
dessen erinnern werden, was Sie gestern taten;
oder mit anderen Worten: lassen Sie uns voraussetzen, dass
Sie ein Bewusstsein für die geraden Tage und ein anderes
Bewusstsein für die ungeraden Tage Ihres Daseins besitzen;
es wird dann jedermann scheinen, dass Sie zwei durchaus
verschiedene Personen sind, weil diese zu einander in keiner
Beziehung stehen. So hat jede ihre eigenen Gedanken,
Geisteskräfte und ihre eigene Handlungsweise; sie sind sich
gegenseitig wie fremd. Wenn ich mich nicht erinnere,
dass ich gestern nach Lille reiste, so bin es nicht ich, der
dorthin ging; wenn ich mich morgen nicht erinnere, dass
ich heute die Ehre hatte in Ihrer Gegenwart zu sprechen,
so würde es scheinen, als ob eine andere Person hier ge-
sprochen hätte.
Die Vorstellung einer kontinuierlichen Persönlichkeit
besteht bloss, weil wir das ununterbrochene Gedächtnis
unseres Tuns besitzen; und wenn, wie in dem merkwürdigen
-*) Vergl. Dez.-Heft v. J., S. 725, Fussnote. — Red.
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