http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1908/0246
Kurze Notizen
235
man denke an den vom Famulus Wagner zusammen kristallisierten
„Homunculus"! — hat man immer von neuem versucht
, die Lebensvorgänge auf chemischem Wege zu erfassen
und zu beherrschen. Zwar ist man inzwischen bescheidener
geworden und wäre froh, wenn man nur den
einfachsten Organismus, die kleinste Zelle, konstruieren
könnte. In den letzten Jahren gingen auch wiederholt
sensationelle Nachrichten durch die Tagesblätter, wornach
es Butler - Burke, Littlefield und le Duc gelungen sei, einfachste
Lebewesen und wachsende Zellen aus unorganisierter
Substanz herzustellen. Der Vortragende lässt solche „Lebewesen
" vor den Augen der Zuhörer entstehen und bezeichnet
die Entdecker als „Symbolisten", welche die Analogie
mit dem wahren Vorgang, die Wachspuppe mit dem Menschen
verwechseln. Darauf schildert er die Versuche, den Lebensproblemen
von der entgegengesetzten Seite nahezukommen,
indem man den chemischen Bau der einfachsten Bestandteile
des Organismus, der Kohlenhydrate, Fette und Eiweiss-
körper, und ihre Umsetzung im gesunden, wie kranken
Organismus studierte. So überaus wertvoll diese mühevollen
Arbeiten auch seien, werde man mit ihrer Kenntnis
allein dem Ziele doch nicht näher kommen, so wenig wie
man aus einem Haufen von Maschinenelementen, aus
Zapfen, Schrauben usw., eine Maschine aufbauen könne,
ohne zu wissen, wie die Bestandteile zusammenhängen.
Nachdem dann vor ca. 20 Jahren die physikalische Chemie
ihren Siegeslauf angetreten hatte, setzte man auf sie die
grösste Hoflnung. In der Tat haben die Kenntnis vom
esmotischen Druck und von der elektrolytischen Dissoziation
eine Reihe biologischer Phänomene unserem Verständnis
nahe gebracht. Im grossen Ganzen müsse man aber sagen,
dass die Erwartungen nicht erfüllt wurden. Selbst relativ
einfache Vorgänge, wie z. B. die Sekretionen, die Harnausscheidungen
, seien heute kaum klarer als vor 20 Jahren.
Man habe den Organismus als ein Gefäss mit Salzlösungen
betrachtet, durch mehr oder minder durchlässige Membranen
in Kammern geschieden. In Wahrheit bestehe aber der
Organismus zum grössten Teil aus Kolloiden, deren
Kenntnis noch in den ersten Anfängen liege, da für sie alle
bisherigen Methoden der Chemie und Physik versagen. (Die
erzielten Erfolge erläutert Redner an einigen Beispielen:
Erregung der Nerven, innere Antisepsis, künstliche Befruchtung
ohne Samen.) Unübersehbare Probleme harren
aber noch der Bearbeitung. Für die Biochemie, jene
Brücke, welche über die Kolloide zu dem Organismus hinüberführe
, bestehe heute noch kein Lehrstuhl, kein Institut,
16*
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1908/0246