http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1908/0254
^Literaturbericht.
243
uns den Anblick des Menschen und der Welt, wie auch die Aufgabe
des Lebens aufs wesentlichste; ja sie bewirkt eine Wendung,
eine Umkehrung der gesamten vorgefundenen Lage. Das Geistesleben
lässt sich vom Menschen nicht ablösen, ohne dass es zu einem
eigenen Eeiche wird und bei sich ein Weltleben entwickelt; dieses
Weltleben aber kann die Forderungen, die es stellt, nur durchsetzen
, wenn es nicht als Sonderreicn, sondern als die Erschliessung
einer Tiefe der ganzen Wirklichkeit gilt, als der, worin diese ein
Beisichselbstsein erweist und einen Inhalt erschliesst, wie ihn alles
bewegte Treiben der Natur nicht gewährt. Die Welt ist ein Ganzes,
nicht ein Nebeneinander einzelner Elemente. Dem Leben, das im
Gebiete der Natur nur nach aussen gekehrt ist, eröffnet sich nun
die Möglichkeit, dass es sich mit dem eigenen Stande befasse und
in dem Sichselbstentfalten und Selbstdurchbilden die alles-
beherrschende Aufgabe findet. Ein derartiges Leben umspannt den
Gegensatz von Subjekt und Objekt, ja es erhöht durch eine gegenseitige
Weiterbildung der beiden Keinen den Gesamtstand und
überwindet die TJnfertigkeit und den Zwiespalt der vorgefundenen
Lage. Die Anerkennung einer Tiefe der Wirklichkeit verändert das
Gesamtbild der Welt, stellt aber auch den Weltlauf in eine eigentümliche
Beleuchtung: er ist nicht bloss eine Erzeugung des
Späteren durch das Frühere, eine Entwickelung, sondern eine
Selbstentwickelung. Erwägt man nun den Aufweis des Ungenügens
und der Unsicherheit des gegenwärtigen Lebensstandes, so treten
namentlich drei Punkte hei vor, bei denen eine Weiterbildung erforderlich
ist: wir bedürfen eines festen Standortes, einer inneren
Befestigung des Lebens, wir bedürfen einer Selbsttätigkeit, eines
eigenen Wirkens und Schaffens, wir bedürfen einer Erhebung über
die kleinmenschliche Art, eines Grosswerdens unseres Lebens,
wenn sich ein Sinn und Wert unseres Lebens finden soll, kurz, das
Leben muss fester, freier und grösser werden. Verworfen aber wird
aller und jeder „Monismus*, der die notwendige Einheit ohne eine
vorhergehende Scheidung glaubt feststellen zu können. Möchten
doch die fruchtreichen Ausführungen dieser Gedanken in Staat und
Gesellschaft, in Kirche und Schule, bei Gelehrten und Künstlern
die wohlverdiente Beachtung finden! Jeder Satz gibt zu denken.
Pf ienhold.
Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen. Beiträge zu einem systematischen
Ausbau des Naturalismus von Max Steiner. Berlin, Ernst
Rofmann & Co., 1908. 244 S. 8°. Geh. Mk. 3.— , eleg. geb.
Mk. 4.—.
Der Darwinismus ist eine fachmännische Streitfrage geblieben;
man verabsäumte , ihn zur Bedeutung einer Weltanschauung zu erheben
, schob die biologische Seite in den Vordergrund und
kümmerte sich um das kulturelle Problem ganz wenig. Aber gerade
die Konsequenzen der Deszendenztheorien stellen in kultureller
Hinsicht eine völlige Umwälzung aller bisher geltenden Begriffe
dar. Was der Darwinismus wirklich ist, was er der Menschheit
raubt und was er ihr bringen kann, das offenbart er nicht als
biologische Doktrin, sondern als vollständig ausgebaute Weltanschauung
, das offenbart er erst in seinen letzten Folgen. Und
diese Folgen für die Moral, die Politik, die Humanität usw. darzustellen
, hat sich der wohlunterrichtete Verfasser sehr angelegen sein
lassen. Der Leser dieses interessanten Buches wird sich sicher an
der streng wissenschaftlichen Behandlung der Sache, an der unerbittlichen
Logik der Schlüsse und der Knappheit, Schärfe und
Klarheit der Sprache erbauen. Nur einige kurze Sätze seien noch
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1908/0254