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338 Psychische Studien. XXXV. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1908.)
vor Hegel zurückfiel, in seiner gewaltigen „Gesehiehte
der Metaphysik" (Bd. I, 106-176) den grossen Neu-
platoniker richtig als den Gipfel der gesamten griechischen
Gredankenentwicklung und den „Wendepunkt der alten und
der mittelalterlichen Philosophieu gekennzeichnet, ihn aus
verwandtem und ebenbürtigem Geiste heraus in seiner gan«
zen Tiefe erfasst und ihm mit vollen 70 Seiten auch äusser-
lich schon einen weit grösseren Raum zugewiesen, als irgend
einem anderen alten oder neuen Denker. Sodann hat Leopold
Ziegler in seiner geistvollen Philosophie der Geschichte der
Philosophie: „Der abendländische Rationalismus
und der Eros" Plotin als den mystischen
Schnitter geschildert, der im Herbste der antiken Kultur
nach vollbrachter Arbeit alles einbringt in die winterlicben
Scheuern. Und zuletzt hat Arthur Drervsy alles früher Gesagte
zusammenfassend, in seinem neuesten Werke „Plotin
und der Untergang der antiken Weltanschauung
" (verlegt bei Eugen Biederichs, Jena i 907)
eine vollständige, in sich zusammenhängende Darstellung
der gesamten Gedankenwelt Plotiris gegeben und dessen
ganze geschichtliche Bedeutung ebenso nach rückwärts, wie
nach vorwärts in einer Weise begründet, dass man sie von
nun an auch allgemein wird anerkennen und sich ein für
allemal mit der Tatsache wird abfinden müssen, dass der
Höhepunkt des antiken Denkens nicht schon
in Pinto und auch nicht in Aristoteles, sondern erst in
Plotin erreicht worden ist. Und so dürfte es vielleicht
auch für die Leser der „ Psychischen Studien" von
Interesse sein, wenn wir hier im Anschluss an das Drews'sche
Werk diejenige Seite der Plotin'schen Weltanschauung näher
betrachten, welche die besonderen Aufgaben dieser Zeitschrift
am nächsten berührt; nämlich seine Psychologie
, mit Einschluss seiner Anthropologie *)
Wie alles Daseiende gehörte nach Plotin auch der
Mensch ursprünglich der Sphäre des Intelligiblen oder Ueber-
smnliehen an. Als Idee unter den Ideen, aller Sinnlichkeit
und Stofflichkeit entrückt, stand er in unmittelbarer Einheit
mit dem gesamten geistigen All und beherrschte, als
ein Teil der Weltseele, mit dieser die Welt, ohne selbst
dem Werden und der Veränderung zu unterliegen (VI, 4,
14 u. 16; IV, 8, 2 u. 4.J. Aus diesem leidfreien Urzu-
*) Die Zitate im Nachfolgenden beziehen sich auf Plotin'$
„Enneaden*. In dem Werke von ßrews, das ich hiermit allen
irgendwie an allgemeinen philosophischen Fragen interessierten
Lesern angelegentlich empfehle, sind die Anthropologie wid die
Psychologie auf S. 207—251 behandelt. —-
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