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Klerikus: Das zweite Gesicht nach Wirklichkeit und Wesen. 343
zweiten Gesicht Begabte ist demnach in der Tat ein Seher,
ein Prophet." Der Verfasser hält es für charakteristisch,
dass der Seher des zweiten Gesichts oder der „Vorge-
sichte11 sich durchweg im Zustande des BewusstseinS,
also des wachen Lebens befinde, ganz im Gegensatz zum
Hypnotismus, bei dem ein Einschläfern*) erfolge. Das ist
insofern richtig, als das rätselhafte Phänomen während
des Wachzustandes ausserhalb des Schlafes eintritt; dagegen
gibt Verfasser zu, dass der Seher im Moment des
Schauens in einer Art von Wahrträumen, im Zustand
der Entrückung sich befindet, wofür ja auch die
plötzliche Erstarrung des Blickes und der ganzen Gestalt
des Sehers spricht. Gegenüber der Behauptung Du Prefs,
dass das zweite Gesicht sich fast ausschliesslich bei Männern
finde, wird betont, dass es ebenso häufig bei Frauen vorkomme
. Es ist dem Verfasser darum zu tun, nur gut
bezeugte Fälle zu bringen, und hierbei konnte er ausser
den ihm persönlich gewordenen Mitteilungen namentlich das
interessante Buch von Kuhlenbeck, Professor der Rechte
in Lausanne: „Spaziergänge eines Wahrheitssuchers ins Reich
der Mystik" (2. Aufl., Leipzig 1890) benützen, ein Buch, von
dem selbst der Philosoph Prof. Dr. Gutberiet gestehen
musste: „Ich habe nicht den Mut, solche Tatsachen angesichts
der gebotenen Bezeugung zu bezweifeln oder das
Eintreffen dem Zufall zuzuschreiben." — Das vierte und
fünfte Kapitel bringen eine Reihe solcher wohl beglaubigter
Fälle des zweiten Gesichts, wobei uns auch der bekannte
westphälische Dreizehnlindendichter Weber und Annette von
Droste-Hülslioff als solche „Spökenkieker" (Spukseher, wie
sie in Westphalen heissen) begegnen. Doch ist hier nicht
immer scharf genug zwischen Fällen d^s zweiten Gesichts
und anderen ähnlichen mystischen Erscheinungen geschieden
. So hätten die Fälle von sog. „Wahrträumen" unbedingt
ausgeschieden werden müssen (S. 62 ff.), ebenso wie
die Seite 58 angeführte Fernmeldung einer Sterbenden.
Auch der Verfasser beweist, dass es ihm nicht an gesunder
kritischer Unterscheidungsgabe fehlt, wie die Ausführungen
im sechsten Artikel: „Schein und Wirklichkeit" zeigen. Er
hätte hier auch noch die Möglichkeit ins Auge fassen
können, die er erst im neunten Kapitel (S. 102) erwähnt,
dass da gar manchmal das „post hoc, ergo propier hoc14
seine Rolle spielt. Auf diese Art Hesse sich wohl das S. 61)
*) Vgl. dagegen einen Artikel über Hypnotismus von Frof Dr.
Max Verworn in einer der Aprilnummern der ^Münchener Neuesten
Nachrichten*.
Psychische St.ihon Juni TOS. 2*»
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