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356 Psychische Studien. XXXV. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1908.)
höheren Zwecken dienen kann, — und dies wird erreicht
durch Umgestaltung des bisher Potentiellen und Latenten
zur wirklichen Existenz. Ohne Zweifel war dieses
Potentielle und Latente in gewisser Beziehung immer als
etwas Wesenhaftes vorhanden, wie sich die Eiche implicite
in der Eichel befindet oder eine Blume in der Knospe; aber
mit der Zeit entwickelt es sich und vermehrt den Wert des
Universums. Dies ist die Bedeutung der Entwicklung.
Der Wert muss sich erhalten — sagt Professor Hoffding
— oder muss sich vermehren; unsere Erfahrung über
die Entwicklung (Evolution) lässt uns glauben, dass er sich
vermehren muss. Gewiss, er geht aus der latenten Form
in andere augenscheinlichere Formen über und, obgleich er
mitunter Schwankungen nach rückwärts unterliegen kann,
ist das Ergebnis doch immer ein Fortschritt. Da Kraft
und Stoff erhalten bleiben (ohne sich zu vermehren oder
zu vermindern, sondern nur die Form wechselnd) und da
vielleicht das Leben ebenfalls in seiner Quantität konstant
ist, obschon es abwechselnd in die Inkarnation tritt oder
dieselbe verlässt, je nachdem der materielle Träger mit ihm
vereinigt oder von ihm getrennt ist, — ist es da nicht gerechtfertigt
zu vermuten, dass einige unter den höchsten
Attributen der Existenz — die Liebe z.B., vielleicht auch
die Freude, kurz alles, was man allgemein als gut und wertvoll
bezeichnen kann — wirklich sich steigern können, und
zwar so, dass die wechselnden Erscheinungen nur als die
Windungen einer Spirale betrachtet werden können, welche
in die Höhe strebt? Es ist dies eine optimistische Anschauung
, aber es ist der Glaube der Dichter und Seher.
Obgleich schlimme Tage über die Individuen und die Nationen
, manchmal sogar über einen ganzen Planeten kommen
können, so ist doch das Materielle stets dem Geistigen
untergeordnet, und das Geistige dauert fort: es kann nicht
stationär sein, es muss sich gewiss in der Stufenleiter der
Existenz erheben. Von diesem Gesichtspunkte aus will das
Gesetz der Evolution, dass das Gute in seiner Gesamtheit
in dem Universum sich vermehrt, gleich dem Entwicklungsgang
der Sonnen, dass Unsterblichkeit selbst eine spezielle
Bedingung eines allgemeinen Gesetzes ist — d. h. dass
nichts im ganzen Universum untergehen kann, wenn es wert
ist bestehen zu bleiben. Es gibt in Wahrheit keinen Verlust
, keine Vernichtung; alles, was genügend Wert besitzt,
sei es nun Personalität, Schönheit, künstlerisches Gefühl,
Kenntnis, Nächstenliebe, bleibt ewig bestehen, nicht einzig
mit der individuellen und persönlichen Existenz, sondern
als ein Teil des ewigen Wesens Gottes. —
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