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Literaturbericht. 365
ihrigen. Ueber den Zusammenhang von Leib und Seele wissen wir
gar nichts. Die Teilung der Zelle ist ein Vorgang, der jeder
mechanischen Erklärung spottet; dass sich diese Selbstteilung durch
mechanische Mittel, also durch Energie und Systembedingungen
verwirklicht, ist nicht zu bezweifeln; es fehlt uns indes schlechter*
dings jede Einsicht in diese mechanischen Mittel und ihr Ineinandergreifen
. Die Abstammungslehre ist nicht Erkenntnis, sondern
Deutung. Wenn wir von einem verschwindend kleinen Tatsachenmaterial
absehen, das der Biologe dem Experiment zu unterwerfen
vermag, so behandelt die Abstammungslehre überwiegend Möglichkeiten
, die der Beobachtung und dem Experiment nicht zugänglich
sind, und schweift damit ins Gebiet der Metaphysik hinüber, während
die eigentliche Naturforschung es mit Wirklichkeiten zu tun
hat, die sich der Erfahrung erschliessen. Der Kampf ums Dasein
kann unmöglich aufbauend wirken, d. h. neue und besser angepasste
Formen erzeugen; seine Wirksamkeit ist eine zerstörende. Die
stammesgeschichtliche Umbildung der Organismen geschieht durch
innere Kräfte, wie sie auch die Entwicklung des Keimes zu einem
fertigen Vogel oder Säugetier beherrschen. Bei der Bevorzugung
des Konvergenzprinzips ist eine gemeinsame Genealogie von
Menschen und Affen ausgeschlossen. Man könnte sogar soweit
gehen, für jede der Menschenrassen eine besondere Urzelle anzunehmen
. In jedem Falle bleibt eine tierische Abstammung des
Menschen unbewiesen. Wir kommen um den Begriff der Seele
nicht herum: die Einheit des Bewusstseins in unseren Wahrnehmungen
spricht für einen einheitlichen Träger der Empfindungen.
Der Idealismus ersetzt eine positive durch eine negative Hypothese;
von hypothesenfreier Weltanschauung kann im Idealismus keine
Bede sein. Es gibt nur Erkenntnis unseres Bewusstseinsinhaltes;
aber dieser Bewusstseinsinbalt ist abhängig von dem Zusammenwirken
unserer Sinnesorgane mit einer Aussen weit, die wir zur
Innenwelt des Bewusstseins hinzudenken. Die Finalität ist ein
wahrhaft wissenschaftliches Prinzip; die teleologische Beurteilung
steht an Wissenschaftlichkeit hinter der ätiologischen nicht zurück.
Der „Monismus" gehört zu den wissenschaftlichen Illusionen. Wissenschaft
und Kunst haben innigere Beziehungen zu einander, als man
gewöhnlich glaubt. Der Naturforscher braucht nicht bei der Zergliederung
der Erscheinungen stehen zu bleiben; er darf sich auch
im Fluge der Ideen dem schauenden Künstler zugesellen. Man
denke an Lionardo und Goethe, Wtenholä.
Grundlinien der Psychologie. Von Dr. Stephan Witasek, Universitätsprofessor
in Graz. Mit 15 Figuren im Text. (Band 115 der philos.
Bibliothek.) Leipzig, Verlag der Uörr'schen Buchhandlung. 1908.
380 S. 8°. Geh. M. 3.—, geb. M, 3.50.
Das Buch erörtert zunächst die allgemeinen philosophischen
Fragen der Psychologie (über das Verhältnis zwischen physischen
und psychischen Tatsachen, über Seele, Ich und Unbewusstes usw.)
und gibt dann eine reichhaltige Zusammenstellung unseres gegenwärtigen
Wissens von den speziellen Tatsachen des psychischen
Lebens, die, da sie die Ergebnisse der Forschung bis auf die
jüngste Zeit verwertet und mit sicherer Hand einem übersichtlichen,
straffen Zusammenhange einfügt, nicht nur dem Fachmann, sondern
besonders auch Psychiatern, Richtern, Lehrern, Studierenden, Seminaristen
usw. die besten Dienste leisten wird. Zur Charakterisierung
der Grundanschauung seien folgende Sätze gegeben: Wenn es auch
für gewisse höchst bedeutsame Fragestellungen der Psychologie
durchaus unerlässlich ist, auf die den psychischen Tatsachen zu-
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