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Literaturbericht. 367
deren Erzeugnisse sich von den durchschnittlichen menschlichen
seelischen Erzeugnissen qualitativ unterscheiden. Von ästhetischen
und metaphysischen Problemen will der Verfasser nicht handeln;
ihm ist die Psychopathologie eine Wissenschaft mit naturwissenschaftlichen
Methoden. Das Gehirn des genialen Menschen zeichnet
sich von dem Durchschnittsgehirn durch die Möglichkeit einer gesteigerteren
Reizbarkeit aus, die mit einer anhaltenden oder periodisch
wiederkehrenden erhöhten geistigen Leistungsfähigkeit verbunden
ist. Allerdings verwandt mit dieser Gehirnanlage ist die,
auf der die geistige Erkrankung, die Psychose, entsteht. In der
Lebensführung der Genialen finden sich Züge, die denen der Psychotischen
vielfach gleich kommen; psychotische Elemente sind vielfach in
die Werke der Genialen verwebt. Genialität ist aber keineswegs Psychose
; dort ist ein gesteigerter Lebensprozess und immer erneutes
Bauen , hier ist fortschreitender Zerfall. Von Bedeutung ist der
Hinweis auf Michelangelo, Friedrich Hebbel, Friedrich Hölderlin,
Lenau, Conrad Ferdinand Meyer, Heinrich von Kleist und Charles
Baudelaire, ferner auf Goethe und Schiller. Bei der Besprechung
des Kontrast- oder Perverswertes weist der Verfasser hin auf Fehden
Hops, den man nur begreift, wenn man die pervertierten
Werke seiner Kunst als Ausdruck einer gesteigerten Bejahung auf-
fasst: aller Zynismus, den er in seine Bilder von der Frau legt, ist
bei ihm nur dazu angetan, einen H\mnus auf die Frau zu singen.
Wenn die hohen Werte, die dem Objekte der Verehrung und Begeisterung
beigegeben sind, nicht mehr ausreichen, so greift das
Gefühl auf die negative Seite: Worte, die in anderen Stimmungen
Beschimpfung sein könnten, dienen dann als Zeichen der Liebe.
Das zeigt schon der alltägliche Verkehr. In den höchsten Graden
der Gefühlssteigerung ist die Perversion Ausdruck stärkster Liebe
und Verehrung. Werden aber Negierungen und Perverswerte Aus-
fangspunkt für ein Handeln, dann sprechen wir von Verbrechen,
[anche Künstler fühlen in sich, dass sie die Kraft zu bald verlässt,
die sie infolge der normalen gesteigerten Reizbarkeit besitzen, und
versuchen sich so durch künstliche Rauschmittel vor dem drohenden
Abgrund der Reaktion nach der gehobenen Stimmung zu retten
frtennold.
Bewusstsein und Unbewusstes. Untersuchung über eine Grenzfrage
der Psychologie mit historischer Einleitung von Eichard Herheriz,
Privatdozent der Philosophie an der Universität Bonn. Köln,
Verlag der M. Üumont - Scfiauberg'schen Buchhandlung. Mk. 3.20.
Warum finden sich unter all den zahlreichen Gelehrten, die
in den letzten 30, 40 Jahren der Erforschung der metapsychischen
Phänomene und den Problemen der okkulten Psychologie näher
getreten sind, so wenig Psychologen? Man sollte ja gerade meinen,
die Herren Psychologen müssten sich doch am ehesten dazu berufen
fühlen, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Handelt es
sich darin doch um die Möglichkeit einer Erweiterung und Vertiefung
des psychologischen Arbeitsgebietes. So meinen wir wenigstens
, wir die wir davon überzeugt sind, dass auf dem Wege der
metapsychischen Forschung und der sich daran knüpfenden metaphysischen
Spekulation das Menschenrätsel wirklich zu lösen ist,
oder wenn wir unsere Meinung bescheidener ausdrücken wollen,
dass die Psychologie der Zukunft zweifellos in die Metapsychik einmünden
muss, wenn sie weiter kommen will. Die Antwort, die der
akademische Psychologe auf solche Zumutung, der Metapsychik sich
zuzuwenden, bei der heutigen, der Metaphysik abgewanaten Richtung
seiner Wissenschaft zu geben gezwungen ist, diese findet nur
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