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v. Schnehen: Plotin's Psychologie.
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Die Aufgabe des logischen Vermögens der
Seele oder ihrer Urteilskraft ist es nun, die aus der
Wahrnehmung empfangenen sinnlichen Vorstellungen zu beurteilen
, sie miteinander zu verbinden und zu trennen und
die Bilder der Erscheinungen mit den aus dem Intellekt
stammenden ewigen Urbildern zu vergleichen (V, 3, 2 u. 3;
VI, 7, 6; VI, 6, 4), Und wie sie hiermit das Sinnliche in
die Form des Gedankens erhebt , so bildet sie auch umgekehrt
das Geistige ins Sinnliche ein; sie entfaltet den an sich
unteilbaren Gedanken, die tibersinnliche Idee zum Begriff,
führt sie damit ins Gebiet der Vorstellung hinüber, lässt
sie in den Formen der Einbildungskraft, wie in einem
Spiegel sehen, worin sie von nun an als Erinnerung beharrt,
und bewirkt hierdurch die Erkenntnis des ursächlichen Zusammenhanges
der Gegenstände oder warum sie gerade so
sich verhalten (V, 8, 6> IV, 3, 30).
So findet also alles Begreifen und Erkennen, die gesamte
Denktätigkeit des Menschen, durch die Ve r m i 11 e-
lung des göttlichen Intellektes statt, der in
uns allen ist, mit dem wir eins sind und der das
eigentliche Subjekt alles unseres Denkens bildet. Wir
denken das Seiende, ohne Bilder oder Abdrücke von ihm
zu haben; also sind wir es selbst. Und da wir es alle
denken, so sind wir eins. Wie die Möglichkeit der Sinneswahrnehmung
auf der wesenhaften Einheit aller einzelnen
Dinge oder rarem gemeinsamen Enthaltensein in der Weltseele
beruht (IV, 5, 3 u. 8), so beruht die des Denkens,
oder (genauer) die der Uebereinstimmung der verschiedenen
Gedanken, auf der Identität desEinen Intellektes
in un8 allen. Wir gleichen vielen nach aussen gekehrten
Gesichtern, die nur einen Scheitel haben; aber wir
wissen es nicht, indem wir uns für gewöhnlich ausserhalb
unserer ursprünglichen Verknüpfung wahrnehmen (VI, 5, 7).
Wohl spricht die höhere Stimme beständig in uns hinein.
Wir aber hören sie nicht, weil sie vom Lärm der Sinnenwelt
übertönt wird (V, 1, 12). Die sinnlichen Eindrücke
also sind es, wodurch uns der intelligible Grund unseres
Daseins für gewöhnlich verborgen bleibt. Auch wir sind
Wissenschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts wieder durch eine
rein materialistische Erklärung aus blossen Gehirnspuren
abgelöst, und erst E. Harimann hat auch hier wieder die beiden
entgegengesetzten Einseitigkeiten durch eine höhere, sie beide mit
ihrem wahrhaften Inhalt in sich aufhebende Ansicht ersetzt. Vergl.
seine „Moderne Psychologie. Eine kritische Geschichte
der deutschen Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
ders * (1901), und den eben aus seinem Nachlass erschienenen
»Grundriss der Psychologie* (1908).
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