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414 Psychische Studien. XXXV. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1908.)
in unserem wahren Selbst das Intelligible. Unser empirisches
Selbst, das Selbst-Bewusstsein, hingegen beruht auf
einer blossen „Erinnerung" an den Intellekt und spiegelt
die Einheit mit ihm gleichsam nur im „Bilde" wieder (III,
9, 3; V, 3, 4.) Denn hier ist das Erkennende und das Erkannte
zweierlei, und der Gegenstand des Denkens ist mit
dem Denkenden nicht eins (IV, 4, 4). Indem sich die
Seele von dem einen hinweg zu sich selbst wendet und
also aus dem Zusammenhange mit dem Ganzen der Vernunft
heraustritt, ihr eigenes besonderes Wesen liebgewinnt
und etwas für sich selbst sein will, hat sie nur mehr eine
„Erinnerung", eine blosse Vorstellung ihres wahren Selbst
Und indem sie dieses Bild, diese Vorstellung ihrer selbst
zum Gegenstande ihres Denkens macht, geht sie darin ein
und verwandelt sich selbst in ein blosses Bild (III, 9, 2:
IV, 4, 3; IV, 8, 4; VI, 7, 5).
Wir erblicken uns also selbst auch nicht, wie wir an
uns sind, sondern gleichsam nur „wie im Spiegel des Dionysos
*, d. h. als Erscheinung, und wir sind in diesem
Zustande um so weniger wir selbst, d. h. unser wahres
Wesen, je tiefer wir in die Sinnlichkeit versenkt sind (IV,
3, 12; IV, 4, 3; IV, 8, 4). a, W. unser Bewusst-
S e i n ist kein wahres Sein, sondern da es in die Mitte
zwischen Sein und Nichtsein gestellt ist, so ist es trotz
seiner intelligiblen Natur der Täuschung und dem Scheine
verfallen. Von der Sinnenwelt wird es zu ihr herabgezogen
, vom Intellekt empfängt es seine Vollendung und
enthält somit das Wesen beider in sich (IV, 6,3)- „Die
Wahrnehmung", sagt Plotin, „scheint stattzufinden, wenn
der Gedanke sich umbiegt und das, was nach
dem Leben der Seele tätig ist, gleichsam zurückgeworfen
ist, wie in einem Spiegel das auf der glatten
und glänzenden Fläche ruhende Bild. Wie nun, wenn der
Spiegel da ist, das Bild entsteht, wenn er aber entfernt
oder nicht richtig aufgestellt ist, kein Bild entsteht, obwohl
der Gegenstand nicht aufhört, auf den Spiegel zu wirken,
so ist es auch mit unserer Seele: wenn das in uns ruht,
in dem die Bilder des Verstandes und Geistes sich spiegeln,
so werden sie gesehen und gleichsam sinnlich erkannt zu-
gleich mit der höheren Erkenntnis, dass der Geist und die
Seele tätig ist. Ist aber dieses Vermögen in uns durch
die Zerstörung der Harmonie des Körpers zerbrochen, so
denken Verstand und Geist ohne Bild, und das Denken
findet ohne die Einbildungskraft statt44 (I, 4, 10). —
Aus all dem geht deutlich hervor, dass Plotin, obwohl
er den Begriff des „Bewusstseins" noch nicht wirklich be-
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