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v. Schnellen: Plotin's Psychologie.
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sass, doch der Sache nach die rein passive und unproduktive
Natur des Bewusstseins bereits erkannt hat. Schon
er bat eingesehen, dass Seele und Bewusstsein zweierlei sind
und dass das Bewusstsein auch nicht zum Wesen der
•Seele, sondern nur zu ihrer Erscheinung gehört und das Dasein
des Körpers voraussetzt (II, 1, 5). Schon er hat die unwirkliche
, scheinhafte, rein vorstellungsmässige Beschaffen-
heit des wIch" durchschaut und es unserem wirklichen
„Selbst" als dessen blosse Erscheinung oder vorgestelltes
Abbild gegenübergestellt. Schon er hat gewusst, dass das
Denken selbst und das Innewerden des Denkens zweierlei
ist (IV, 3, 30); dass alles reine Denken, alle wirkliche
Denktätigkeit unbewusst ist (I, 4, 9; IV, 8, 8) und
darum auch die denkende Seele selbst nicht unmittelbar
von uns erkannt wird, sondern nur mittelbar aus den reflektierten
Strahlen ihrer Wirksamkeit in dem scheinhaften
Spiegel des Bewusstseins. M. a. W. schon Plotin hat eine
Einsicht vorweggenommen, die in unseren Tagen Ed. v.
Hartmann, ohne anfangs von seinem grossen Vorgänger zu
wissen, selbständig erneaert hat. Und wenn man nur die
allerdings zerstreuten und kurzen Andeutungen oder tief-
sinnigen Ahnungen des alten griechischen Denkers mehr
beachtet hätte, dann hätte der ganze Irrweg der modernen
Bewusstseinsphilosophie von Descartes bis zur Gegenwart
vielleicht vermieden werden können.*) Und man würde
sich vielleicht auch heute auf unseren Kathedern nicht mehr
so gegen den vermeintlichen „Widersinn" einer unbewussten
Denktätigkeit sträuben. —
Und wie steht es nun mit der Freiheit des
menschlichen Willens? Dass sie nicht als grundlose
Willkür, als „liberum arbitrium indifferentiae" verstanden
werden kann, ist von vornherein klar. Denn für Plotin ist
ja die Welt mit allen ihren einzelnen Teilen nur die Erscheinung
der Weltseele, und diese bestätigt sich in ihr
als Vorsehung, indem sie — natürlich nicht nach Art
unserer bewussten Ueberlegung, sondern intuitiv alles in
eins schauend und das Spätere in dem Früheren mit
setzend, — das einzelne vorhersieht, ihm seine Existenz
und Bestimmung im Hinblick auf das Ganze zuerteilt, das
Weltgeschehen ideell determiniert und die vielen Dinge und
Geschehnisse planvoll untereinander zur Einheit des All-
*) Die irrtümliche Voraussetzung dieser ganzen Bewusstseinsphilosophie
: das „Gogito, ergo sum* des Cartesius hat Arthur
Drews in seinem Werke «Das Ich als Grundproblem der
Metaphysik* einer einschneidenden Kritik unterzogen.
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