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418 Psychische Studien. XXXV. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1908.)
Vielmehr werden die Seelen, die sich während ihres Aufenthaltes
hier unten von ihrer Anhänglichkeit an den Leib
nicht frei gemacht haben, von neuem zur Verkörperlichung
gezwungen. Und zwar wird eine jede wie mit magischer
Gewalt zu dem Körper hingezogen, der ihrer Natur am
meisten entspricht: mag es nun der eines Menschen, eines
Tieres oder einer Pflanze sein (III, 4. 2). Nur die Seelen,
die rein von allen sinnlichen Trieben und irdischen Beimischungen
sind, kehren nicht mehr zur Erde zurück,
sondern steigen zu dem ihrer Natur am nächsten verwandten
Gestirne auf, schwingen sich endlich ganz über die
Sinnenwelt empor und, eins geworden mit der Weltseele,
regieren sie mit dieser zusammen das gesamte AH (III, 4,
6; IV, 3, 24; V, 8, 7). Dabei verblasst die Erinnerung
an die irdischen Dinge um so mehr, je hoher die Seele
emporsteigt. Nur die sinnliche Seele erinnert sich alles
dessen, was sie getan und gelitten hat; die ins Reich des
üebersinnlichen eingegangene und mit Gott eins gewordene
Seele aber erinnert sich überhaupt an nichts mehr, nicht
einmal an ihr eigenes Selbst, sondern geniesst in zeitloser
Ewigkeit unmittelbar die Seligkeit eines ungestörten Schau-
ens (IV, 3, 27, 31 u. 32; IV, 4, 1; VI, 9, 10). -
So durchwandeln also die Seelen in verschiedenen Gestalten
die Welt. Diese Verwandlungen aber sind möglich,
weil die Seele ihrer Natur nach alles ist; denn so kann
sie auch alles werden, je nach dem, für welche der in ihr
vorhandenen Möglichkeiten sie sich entscheidet, d. h. welchen
ihrer Bestandteile sie zum herrschenden macht (VI, 7, 6).
Der „Dämon", der den Menschen im Leben geleitet, führt
ihn auch in den Hades und zum Gericht. Wenn aber die
Seele wieder hierher zurückkehrt, so hat sie entweder denselben
Dämon oder einen andern, je nach dem, welches
Leben sie sich selbst bereitet (Iii, 4, 6). So hat der
natürliche Lauf der Dinge zugleich eine sittliche Bedeutung.
Die in den Dingen selbst waltende göttliche Gerechtigkeit
bestimmt die Zustände, in welche die Seele gerät und die
Schicksale, welche sie erleidet (IV, 3, 24). Das sittliche
Verhalten des Menschen in einem Lebenslaufe findet seine
genau entsprechende Vergeltung im nächsten. Jede
Tat trägt unmittelbar ihre Sühne in sich selbst: ein jeder
empfängt, was er verdient, und verdient, was er erleidet.
Diese Ordnung ist die „Adrasteia": die ünentrinnbare, die
eins ist mit der höchsten Gerechtigkeit und der wunderbarsten
Weisheit (III, 2, 13).
So vertritt auch Plotin die uralte Lehre von der Seelenwanderung
, die wir überall in den tieferen Eeligionen des
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