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Kornherr: Ein Spukhaus bei London. 471
sechs Tage vor Abfassung meines Berichtes, dass der Geist,
von welchem ich erzählen werde, zum letztenmal erschien,
wenn man überhaupt von einer Erscheinung sprechen kann,
indem dieses merkwürdige Gespenst nicht nur bei Tage,
sondern auch bei Nacht unsichtbar ist. Obwohl unsichtbar,
ist es aber leider keineswegs unfühlbar, unhörbar, oder was
das Schlimmste von allem ist, geruchlos; denn die besondere
Eigentümlichkeit dieses Geistes ist es, dass er den Geruch
eines Leichenhauses mit sich führt. Ungefähr vor zwei
Jahren mietete eine mir befreundete Dame in einem zwanzig
Meilen von Charing Gross entfernten Dorfe eine Villa mit
acht Bäumen, Dieselbe war altmodisch und hatte einen
eigenen Namen, den ich natürlich verschweige; ich will sie
aber „Carmine-Villa" nennen. Die Miete war ausserordentlich
gering — nur 10 sh. pro Woche für ein achträumiges
sehr wohlerhaltenes Haus —, so gering, dass es hätte auffallen
müssen; aber meine Freundin fragte nicht darnach
und nahm das Haus. Sie will es nun verlassen, aus Gründen
, welche jeder, der dieser Erzählung bis zum Schlüsse
folgt, vollkommen vei*stehen wird.
Im laufenden Jahre — ohne weiter zurückzugehen —
bewohnte meiner Freundin Tochter, welche nichts von der
Geschichte und den früheren Ereignissen des Hauses wusste,
nahe dem Dache ein Fremdenzimmer, das der Haupt-
aufenthaltsort des Gespeistes zu sein scheint. Das Mädchen
— beiläufig 14 Jahre alt — war eingeschlafen, als es
plötzlich mit dem Bewusstsein der Anwesenheit von irgend
jemand, der im Dunkeln an seinem Bette stehe, aufwachte.
Darüber erschreckt, wollte es schreien, als sich eine schlaffe,
grosse, kaltfeuchte Hand mit schwerem Druck auf seinen
Mund presste. Es war ein unerschrockenes Mädchen; es
setzte sich daher, wenn auch mit Mühe, im Bette kerzengerade
auf, indem es versuchte, die Hand von seinem
Munde zu ziehen. Allein zu seinem nicht geringen
Schrecken wurde es durch die Hand des unsichtbaren Eindringlings
fest auf das Kopfkissen zurückgepresst, und
gleichzeitig verspürte es einen unerträglichen Geruch.
Hastig das Bettzeug über seinen Kopf ziehend, sagte es inbrünstig
einige seiner Gebete her — die Familie ist katholisch
—, und zu seiner grossen Erleichterung und Freude
löste sich der Griff des scheusslichen Unsichtbaren und es
schlief wieder ein.
Am Morgen glaubte das Mädchen, es sei Alpdrücken
gewesen und erwähnte nichts darüber. Als es aber das
nächstemal in jenem Zimmer schlief, ereignete sich derselbe
Spuk. Wieder hatte es das Gefühl, dass jemand im Zimmer
Psychische Studien. August 1908« 31
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