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532 Psych. Studien. XXXV. Jahrg. 9. Heft. (September 1908.)
Nur selten wählt er die menschliche Gestalt, — aber hiervon
abgesehen gibt es nichts, in dem der Afrikaner, „der
es gelernt hat,** nicht eine Geistererscheinung erblicken
könnte. Der Geist erscheint in der Gestalt eines
Krokodiles oder eines Leoparden, wie auch in der Form
des Sturmes, im weissen Mantel der tosenden Brandung
und in den schwarzen Schleiern der heulenden See. Worin
der eigentliche Grund dieser Anlage des Wilden liegt, ist
nicht ganz leicht zu sagen.
Miss Mary ff, Kingsley*) meint, dass der Afrikaner eine
supersensitive Organisation besitzt. Er ist immer eine Stufe
näher dem Delirium, als der Engländer; ein Unwohlsein,
das dem letzteren nur Kopfweh verursacht, erzeugt bei
dem Afrikaner bereits Delirien und Visionen. Ob derselbe
infolge des langen Prozesses der Akklimatisation in den
Malaria-Distrikten an einem gewissen chronischen Malaria-
Delirium leidet, oder ob sein zweifellos sensitives Nervensystem
ihn geeigneter macht, Dinge zu sehen, welche der
kühle Engländer nicht sieht, oder ob der Geist des Afrikaners
eine bessere photographische Platte darstellt, auf
welcher die Geisterwelt wirken kann, all' das will Miss
Kingsley nicht entscheiden.
Es trägt nun sicher die geschilderte sensitivere Organisation
des Afrikaners viel zu seinem Geisterglauben bei,
aber mehr noch wird letzterer* durch die religiösen
Anschauungen begünstigt, ja man kann wohl sagen,
bei ihm grossgezogen. Alle Stämme von West-Afrika erkennen
zwar eine grosse und mächtige Obergottheit an,
allein dieser grosse Gott hat kein Interesse an den menschlichen
Angelegenheiten; er hat die Regierung der Welt
und der Menschen den „Geistern" überlassen, und da letztere
meistens dämonischer Natur sind, so ist die Abwendung
jenes grossen Gottes von der Erde als Fluch zu betrachten.
Professor Dr. Wilhelm Schneider sagt in seinem interessanten
Werke: „Die Religion der afrikanischen
Naturvölker:"**) „ Die Negeranschauung über den
auf der Schöpfung lastenden Fluch hat einige Aehnlichkeit
mit der namentlich in England beliebten, in Deutschland
von Kurtz und von anderen, vorwiegend protestantischen
Theologen und Theosophen vorgetragenen Restitutionshypothese
, nach der die Schöpfung durch einen störenden
Eingriff seitens der gefallenen Geister zugrunde gerichtet
und im Sechstagewerk wieder hergestellt sein soll. Gott
*) „Proeeedings,* Bd. XIV.
**) Münster i. W., 1891.
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