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652 Psych. Studien. XXXV. Jahrg. 9. Heft. (September 1908.)
„Jetzt erst erkenn ich, was der Weise spricht:
Die Geisterwelt ist nicht verschlossen.44
Goethe^ Beziehungen zu Swedenborg sind von M. Morris
im VI. Bande des „Euphorion" ausführlich bereits besprochen
worden. Der Einfluss, den der Seher auf den
Dichter gehabt, offenbart sich vor allen Dingen in den
Geisterszenen des „Urfaust" und am Schlüsse des zweiten
Teiles des „Faust". Morris, der diesen Einfluss an vielen
Einzelheiten nachweist, muss zudem einräumen, dass es sich
überhaupt um eine durch den nordischen Seher genährte,
ganz ungewöhnlich starke Neigung, die Welt mit Geistern
zu bevölkern, handelt. Den von Morris für diese Tatsache
angeführten 16 Belegen habe ich in meiner oben erwähnten
Schrift nicht weniger als 36 hinzugefügt. Dies beständige,
das ganze Leben hindurch und bei den verschiedensten
Anlässen gepflogene Operieren mit Geistern ist denn doch
etwas mehr als ein (Goethe überhaupt ganz fern liegendes)
Spiel der dichterischen Phantasie; es beweist ganz einfach,
dass der Dichter von der Existenz eines Geisterreichs
wirklich überzeugt war. — Verstärkt wird dieser Beweis
dadurch, dass Goethe viele Male spukhafte Erscheinungen
der verschiedensten Art angedeutet oder ausführlich beschrieben
hat. In den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter
" kommt sogar ein regelrechter Klopfgeist vor.
Am eben genannten Ort stellt Goethe an seine Leser
die unerhörte Zumutung, an die Telepathie zwischen zwei
leblosen Gegenständen zu glauben. Als von zwei gleichen,
aus demselben Holze und vom selben Meister verfertigten
Schreibtischen der eine verbrennt, reisst die gewölbte Decke
des andern ohne erkennbare Ursache völlig durch.*) Am
Schlüsse der Erzählung heisst es alsdann sehr bemerkenswerterweise
: „Sie ergriffen die Gelegenheit, über manche
unleugbare Sympathien zu sprechen, und fanden am Ende
eine Sympathie zwischen Hölzern, die auf einem Stamme
erzeugt worden, zwischen Werken, die ein Künstler verfertigt
, noch ziemlich wahrscheinlich. Ja, sie wurden einig,
dergleichen Phänomene ebenso gut für Naturphänomene
gelten zu lassen, als andere, welche sich öfter wiederholen,
die wir mit Händen greifen und doch nicht erklären
können." —
Obschon Goethe im allgemeinen von der Gesetzmässigkeit
alles Naturgeschehens zweifellos überzeugt war, scheint
er im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Okkultisten hin
und wieder doch Anwandlungen von Wunderglauben ge-
*) Vgl. hiezu die Ausfuhrungen OMm>% S. 542 ft. — Red.
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