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Seiling: Goethe und der Okkultismus, 553
habt zu haben. Er verrät den geheimen Zug seines Herzens
schon, wenn er den Wunderglauben Jang-StiUing's „unangetastet
^ lässt; er erzählt mit durchaus frommem Sinn
die Geschichten des heiligen Filippo Neri und des heiligen
Rochus; er berichtet wiederholt von plötzlichen Heilungen;
er bringt das Wunderbare am Schlüsse der Novelle zur
Geltung, insofern der Knabe durch die Vermittlung höherer
Wesen vom Löwen verschont wird; und, was die Hauptsache
ist, er respektiert die biblischen Wunder. So
sagt z. B. der Begleiter Wilhelniz in der pädagogischen
Provinz der „Wanderjahre" mit Bezug auf die in der .
zweiten Bildergalerie dargestellten Wunder und Gleichnisse
Christi: „ . . . und eben daher entsteht das Wunderbare
des Wunders, dass das Gewöhnliche und Ausserordentliche
, das Mögliche und das Unmögliche eins werden."
Und ein Ausfluss stärksten Wunderglaubens ist es, wenn
die Auferstehung Christi bei der Besprechung von Man-
zonfs heiligen Hymnen „das Grundergebnis der christlichen
Religion, das eigentlichste Evangelium" genannt wird.
Allen seinen Aeusaerungen über okkulte Dinge setzt
Goethe — falls man nicht etwa das an Wieland's Begräbnistag
mit Falk geführte Gespräch*) dafür ansehen will —
die Krone auf mit jener hochmystischen Frauengestalt, die
er in den „Wanderjahren" unter dem Namen Makarie einführt
. Hier insbesondere ist er selbst dem Okkultisten unbegreiflich
oder doch schwer verständlich. Denn Makarie ist nicht nur
eine Seherin universellster Art, sie ist als „höheres Wesen"
auch ein in menschlicher Hülle wohnendes Gestirn, das die
Bewegungen seiner himmlischen Geschwister fühlt. Und
Makarie, deren Eigenart ausführlich beschrieben wird, ist
durchaus ernst zu nehmen; denn die Mitteilungen über sie
werden gemacht, „um Nachdenken zu erregen und Aufmerksamkeit
zu empfehlen, ob nicht irgendwo schon etwas
Aehnliches oder sich Annäherndes bemerkt und verzeichnet
worden." —
Schliesslich sei darauf hingewiesen, dass die sämtlichen
Hauptmomente der okkultistischen Philosophie, wie sie von
du Prel begründet worden ist, sich gelegentlich auch bei
Goethe finden, nämlich: der Primat des Geistes; die individuelle
, wahrscheinlich mit Wiederverkörperung, jedenfalls
*) Goethe sagte bei dieser Gelegenheit u. a., dass er schon
tausend Mal dagewesen, dass Geburt und Tod ein selbständiger
Akt der regierenden Hauptmonas seien, dass es einen Zusammenhang
unseres Gehirns mit dem Uranus gebe, dass das menschliche Genie
bei der Abfassung der Gesetztafeln über die Entstehung des Weltalls
zugegen war!!
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