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iSteckel: Ist der Landstreicher geisteskrank ?
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nicht allzulange an einen Ort fesseln kann. Und wenn wir
selber in den sonnigen Sommertagen den Wanderstab ergreifen
, glauben wir etwas von der Stimmung eines fahren-
den Gesellen zu verspüren. Beneiden ihn vielleicht um
seinen Wahlspruch: „Federleicht ist mein#Gepäeke — und
mein Blut ist leicht und frisch.* Gar seit wir wissen, dass
Gor/ci, der populäre treffliche Gorki, ein Landstreicher gewesen
, seit er uns in zahlreichen Skizzen, in seinem „Nachtasyl
", diesen armen Menschen in plastischer Deutlichkeit
wiedergegeben hat; seit Ostwald und andere uns von ihrer
Sprache, ihren geheimen Zeichen, ihren Gebräuchen, ihren
Liedern erzählt haben, ist unser Interesse für die »Schiffbrüchigen
des Lebens" reger denn in früherer Zeit,
Diesem allgemeinen Interesse dürfte es auch zu verdanken
sein, dass ein deutscher Psychiater, Dr. Karl Wil-
manns, Privatdozent in Heidelberg, sich der schwierigen
Aufgabe unterzogen hat, die Lebens- und Leidensgeschichte
der Landstreicher an einem grossen Material zu untersuchen.
Freilich, an einem einseitigen Material. Es handelt sich
nämlich um Pfleglinge der Heidelberger psychiatrischen
Klinik, die eine grosse Menge von Landstreichern zugewiesen
erhält. Es ist dies wohl nur dem Verständnis der
Badener Beamten zu verdanken, die offenbar eine entsprechende
psychiatrische Vorbildung genossen haben müssen.
Aus den Korrektionsanstalten und Arbeitshäusern strömte
das Material in das Heidelberger Irrenhaus.
Das verleiht eben der Arbeit Wilmanni eine grosse
Bedeutung, die weit über das spezialistische Interesse an
dieser Präge hinausgeht. Denn der gelehrte Verfasser
führt an Hand von 41 genau beobachteten Fällen den
Nachweis, dass in vielen Korrektionsanstalten offenkundig
Geisteskranke zurückbehalten und diszipliniert (!) werden.
Von 85 geisteskranken Landstreichern und Bettlern, die
innerhalb vier Jahren (1900 bis 1904) aus einem Arbeitshaus
der Klinik überwiesen wurden, befinden sich 52, die
an Dementia praecox, der jugendlichen Verblödung, litten.
Die meisten von diesen armen Geisteskranken hatten ein
förmliches Martyrium durchzumachen, bevor man sie als
Kranke erkannt hatte. Ich kenne keine zweite so fürchterliche
Anklage gegen die Gesellschaft wie dies Werk „Zur
Psychopathologie des Landstreichers" (Leipzig, 1906* Johann
Ambrosius Barth). Die einzelnen Krankengeschichten lesen
sich wie erschütternde Tragödien, wie sie nur das Leben
dichten kann.
Die Ursache, dass das Grundleiden dieser Geisteskranken
, die Dementia praecox, nicht erkannt wurde,
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