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608 Psych. Studien. XXXV. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1908.)
Laienverstand der richtigen Erkenntnis einer Geisteskrankheit
wiederholt Ausdruck gab. — Was will man erst zum«
Fall Biehl sagen? Der Vater reklamiert seinen Sohn aus
der Arbeitsanstalt wegen Geisteskrankheit. Die Anstalts-
eitung erklärt, der Gefangene zeige keine Spur von Geistes*
Störung, wohl aber grosse „Faulheit44. Er sei nein über
alle Vorstellungen fauler junger Taugenichts", für den eine
Nachhaft sehr vorteilhaft wäre. Schliesslich kommt er
doch ins Irrenhaus. Die Willensschwäche, Indolenz und
Gebundenheit, die geistige Hemmung des Kranken wird
leider sehr häufig mit Faulheit verwechselt.
Siehe Fall Kelbormann! Eine Strafe nach der anderen
soll den stumpfsinnigen, rstuporösen<4 Kranken von seiner
Faulheit kurieren. Trotzdem nimmt sein Eigensinn zu. Jn
der Schule will er „absichtlich** nichts leisten. Schliesslich
kommt er mit „hochgradigem Schwachsinn" ins Irrenhaus,
nachdem er beispielsweise innerhalb 4 */2 Monaten mit
zwanzig Disziplinarstrafen, mit 25 Tagen Hungerkost und
288 (!) Stunden Dunkelarrest bestraft wurde! (Nicht zu
vergessen: die grausamen Foltern der Entziehung des
Lagers, so dass der arme Kranke auf dem harten Fuss-
boden schlafen musste!)
Aber auch auffallende Symptome geistiger Umnachtung
schützen das kranke Individuum nicht vor den Torturen
des zwanzigsten Jahrhunderts. Zahlreiche Beispiele, die
JVUmanns anführt, beweisen, dass „offenkundig Geisteskranke
in den Arbeitshäusern zurückgehalten und wissentlich ebenso
wie die „normalen" Korrigenden mit Dunkelarrest und
Hungerkost bestraft werden, bis die fortschreitende Verblödung
ihnen die nötige „Reife" für die Irrenanstalt gegeben
hat." Offenbar gibt es noch Menschen, die an die
heilende Wirkung von Dunkelarrest und Hungertagen
glauben. Denn die von Wilmanns zitierten Akten bemerken
bei einem Kranken: „Die geistigen Störungen verschwanden
nach dreimal 24 Stunden Dunkelarrest"; bei einem anderen:
„Bei Androhung einer dreitägigen Hungerkur gab er sein
unsinniges Benehmen auf.4'
Wenn die Kranken selber zur Einsicht kamen, dass
sie geisteskrank wären und so bessere Diagnosen stellten
als ihre Aerzte, wurden sie als ^Simulanten44 bezeichnet,
die Wahnideen vorspiegelten, um in den Irrenanstalten
nicht arbeiten zu müssen. Einer von ihnen {Karle) wurde
wegen Simulation mit Hungerkost bestraft.
Wahrlich — solche Missstände schreien gen Himmel!
Tausende Menschen, die man als Verbrecher, als arbeitsscheues
Gesindel betrachtet, sind geisteskrank und werden
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