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V
Hepworth: Eine Vision? 641
zum Erbarmen aus: abgemagert bis aufs Gerippe, welches
deutlich durch jeden Knochen hervortrat, verhungert, verkommen
in jeder Hinsicht, den Kopf tief heruntergebeugt,
trottete es dahin, geleitet von einem Mann mit langem,
weissem Bart, der wild um das gefurchte schmutzige Gesicht
hing. Er trug eine Art Kaftan, der ebenso zerfetzt
und zerlumpt war wie die Sandalen, aus denen die schmutzigen
, wunden Füsse heraussteckten. Müde wie sein Boss,
schleppte sich der Mann hin, es lenkend mit einem Zaum
aus Tauenden und Stricken zusammengeknotet. Aus dem
zerlumpten Plane des Gefährtes blickte ein Weib mit
müden, geschwollenen Augen, blinzelnd in die Helle des
sonnengetränkten Mittags stierend. Die abgemagerten
Arme suchten die Fetzen der Bekleidung zusammen zu
halten, die durch das wild herabhängende Haar an der
Büste fast verdeckt wurde: ein Bild des Jammers, mehr
noch als der Lenker des elenden Gefährtes.
Ich verfolgte wie im Bann dieses Bild. Ich konnte
es nicht fassen, dass man ein solch elendes Gefährt auf
dem belebten Steindamm ruhig fahren Hess. Mich wunderte,
dass der Schutzmann an der Ecke der Lindenstrasse ruhig
stehen blieb, als ob er dieses personifizierte Elend garnicht
sähe; ich hatte erwartet, dass er sofort auf den Rosselenker
zugehen, das knochige Pferd beim Zügel fassen und zur
Wache führen würde. Sah er das Gefährt wirklich nicht,
ebenso wie die zahlreichen Passanten, denen dieser Wagen
ebenso gut auffallen musste wie mir? Aber, was ging's
mich an, ich hatte Eiligeres zu tun, als mich um ein so
elendes Gefährt zu kümmern. Ich ging zur Haustür hinein
— aber, als ob es mich mit unsichtbaren Händen zöge,
kehrte ich um, zu sehen, wohin der Wagen mit seinem
unheimlichen Lenker fuhr. — Nichts zu sehen 1 Er musste
in die Lindenstrasse oder in die Bergstrasse eingebogen
sein; aber was wollte er denn dort — und das in der
Schnelligkeit? Er war eben fort und meinen Blicken entschwunden
, und ich dachte nachher nicht wieder daran. —
Am andern Tage erfuhr ich, dass die Cholera ausgebrochen
sei Ein Freund erzählte es mir. Ich gab
nicht viel darauf, denn einige Cholerafälle kommen in einer
Hafenstadt wohl vor. Dies beim Steindamm: beim Strohhaus
war sie ausgebrochen und forderte ihre Opfer. Es
blieb nicht dabei! Mehr und mehr hörte man von der
Cholera, sie wütete und eine der schrecklichsten Zeiten,
die ich je erlebte, brach für unsere Vaterstadt herein.
Gott bewahre uns vor einer zweiten solchen! Alle Fröhlichkeit
verstummte, die Musik in den Lokalen hörte auf,
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