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652 Psych. Studien. XXXV. Jahrg. 11. Heft. (November 1908.)
von Möglichkeiten, die bei etwas abweichender Richtung
der Phantasie auch ebensogut ganz anders ausfallen könnten.
Darin liegt schon ein Massstab für ihren wissenschaftlichen
Wert. Die vergleichende Morphologie der Organismen gestattet
bei solchen Spekulationen die mannigfachsten Verschiebungen
. Eine besonnene und kritische Abstammungslehre
wird daher sorgfältig die Wahrscheirlichkeitsgründe
zu prüfen haben, die zugunsten der einen, zu Ungunsten
anderer Kombinationen sprechen. Aber von solchem kritischen
Abwägen ist selten etwas zu spüren; die Stammbäume
werden auf das Papier geworfen und als Dogmen
verkündet.
Dass eine kritische Abstammungslehre sich ungern mit
Stammbäumen befasst, braucht kaum besonders hervorgehoben
zu werden. Die Abstammungslehre legt ihren Betrachtungen
die Voraussetzung zugrunde, dass die heute
lebenden Pflanzen und Tiere Endglieder von Entwicklungsreihen
sind, die in einer unabsehbar weit zurückliegenden
Erdperiode als einfache Zellen ihren, Ursprung nahmen
und in fortschreitender Entwicklung sich vervollkommneten.
Sie lässt sich bei Annahme dieser Voraussetzung leiten
von der Analogie mit der Entwicklung der heute lebenden
Tiere und Pflanzen aus ihren Keimen. Dass aber schon
diese Voraussetzung nur eine Möglichkeit darstellt, geht
daraus hervor, dass unter den ältesten uns bekannten
Fossilien sich schon Krebse und Farnkräuter befinden,
während zur heutigen Flora und Flauna des Erdballs zahllose
einzellige Geschöpfe gehören. Geben wir die Richtigkeit
jener Voraussetzung indes einmal zu, so erhebt sich
die Frage, ob im Anfange eine einzige oder mehrere oder
vielleicht Milliarden von Urzellen gegeben waren. Wäre
letzteres der Fall, dann könnte jede heute lebende Tierund
Pflanzenart sich aus einer solchen Urzelie entwickelt
haben; es brauchte keinerlei verzweigte Stammbäume zu
geben, und wo wir heute auf Scharen ähnlicher Formen
treffen, z. B. Gräser, Singvögel, da weisen sie nicht auf
einen gemeinsamen Stammbaum und Ursprung hin, sondern
die Aehnlichkeit ist ihnen im Laufe der Entwicklung durch
gleiche Lebensbedingungen aufgeprägt worden. Das ist
ein Gedanke, der kürzlich durch Hermann Friedmann mit
tiefem Ernste entwickelt wurde. —
Unter den zahlreichen Problemen der Abstammungslehre
sind es zwei, die das Interesse weitester Kreise der
Laienwelt auf sich gelenkt haben: die erste Entstehung
des Lebens an der Erdoberfläche und der Ursprung des
Menschen.
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