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Eeinke: Der heutige Stand der Abstammungslehre, 653
Was die erste Entstehung lebendiger Geschöpfe anlangt
, die imstande waren zu wachsen, sich zu ernähren,
sich fortzupflanzen, so wird angenommen, dass diese ersten
Organismen von grösster Einfachheit waren: mikroskopische
Einzelzellen, vielleicht viel einfacher gebaut als alle heute
vorkommenden Zellen; wir wollen sie Urzellen nennen.
Diese Urzellen sollen aus dem unorganischen Material der
Erdrinde, sagen wir kurz aus feuchter Erde, entstanden
sein, ein hypothetischer Vorgang, den man „Urzeugung" genannt
hat. Eine solche Urzeugung widerspricht aller Erfahrung
des Naturforschers. Es gehört zu den bestbeglaubigten
Sätzen Imseres Wissens, dass jeder Organismus
aus einem Keim, jede Zelle, die ja selbst ein einfachster
Organismus ist, aus einer Zelle hervorgeht; wir kennen
also für Organismen nur das Gesetz der Abstammung. Ist
eine Urzelle gegeben, dann vermag die spekulative Biologie
es allerdings als möglich hinzustellen, dass aus solcher Urzelle
sich die höheren Organismen nach und nach entwickelten
, wie auch ein Frosch, eine Katze, ein Birnbaum
sich im Laufe ihres individuellen Lebens aus einer einfachen
Zelle entwickelt haben. — Zur Annahme der Urzeugung
gehört weiter, dass die Urzellen elternlos aus der
feuchten Erde entstanden durch Kräfte, die diesem anorganischen
Material selbst inne wohnen. Die Anhänger der
Urzeugungslehre zerfallen in zwei Klassen, die ich als inkonsequente
und als konsequente unterscheiden will. Die
konsequenten ürzeugler nehmen an, dass Urzeugung immer
vorkomme, heute so gut wie vor Millionen von Jahren,
dass es aber dem Spürsinn der Naturforscher noch nicht
geglückt sei, sie wahrzunehmen. Die Zahl dieser Konsequenten
ist gering, da sie die Leistungsfähigkeit der Naturforscher
allzusehr unterschätzen und sich in allzu schroffen
Widerspruch gegen alle Erfahrung setzen. Die Inkonsequenten
glauben pfiffiger zu handeln, indem sie die Urzeugung
auf ein einmaliges Geschehen vor vielen Jahr«
raillionen einschränken, wo kein Beobachter zugegen sein
konnte; sie sprechen davon, dass damals Bedingungen der
Urzeugung vorhanden waren, die heute nicht mehr existieren.
Die Herren vergessen, dass jene Bedingungen doch nur naturgesetzlicher
Art sein konnten, und Verstössen mit ihrer Hypothese
gegen den obersten Grundsatz aller Naturforschung
von der Gleichheit der Naturgesetze zu allen Zeiten. Sie
legen dem feuchten Erdboden für die Vorzeit andere chemische
Eigenschaften bei, als er in der Gegenwart besitzt.
Mir kommt das so vor, als ob jemand sagen wollte: „Dass
der Kopf eines Enthaupteten sich von selbst wieder an
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