http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1908/0744
Reiiike: Der heutige Stand der Abstammungslehre. 729
zu finden. Ereilich ist einzuräumen, dass die Methoden
der Naturforschung, Beobachtung und Experiment, hier
versagen und dass logisches Schliessen über den Schatz
der Erfahrung hinaus an deren Stelle tritt; dass mit einem
Worte der Boden der Naturforschung verlassen und der
Boden der Naturphilosophie betreten wird. Aber die Naturphilosophie
ist auch kein verbotenes Land für den Natur-
forscher, seitdem sie nicht mehr deduktiv ins Blaue hinein
konstruieren, sondern von sicher beglaubigten Tatsachen
ausgehend, induktiv folgern will und den Grundsatz an die
Spitze ihrer Untersuchung stellt, dass keine ihrer Folgerungen
mit Tatsachen der Erfahrung im Widerspruch stehen
darf. —
Kein Naturforscher kann den Satz in Abrede stellen:
An den Fähigkeiten des menschlichen Verstandes gemessen,
sieht es so aus, als ob der Kosmos, insbesondere die
Harmonie im Bau und in den Verrichtungen der Pflanzen
und der Tiere, auf eine die Fähigkeiten des Menschen turmhoch
überragende Intelligenz und Macht zurückgeführt
werden könne. In diesem Satze sind alle einig und müssen
alle einig sein. Ihm gegenüber nehmen die Naturforscher,
die an diesem Punkte sämtlich zu Naturphilosophen werden,
drei verschiedene Stellungen ein. Die einen, die Agnostiker,
lassen es bei jenem „es sieht so aus14 bewenden, und verbieten
es, weiter zu fragen. — Die zweiten, die Materialisten
, denen ich in diesem Zusammenhange die radikalen
Energetiker zuzähle, sagen: „Da es nur Druck, Zug, Materie
und mechanische Arbeit gibt, so kann die Harmonie der
Natur (die ich der Kürze halber als Kosmos bezeichne)
nur durch Zufall enstanden sein; denn weil im Kosmos
weder mit dem Fernrohr, noch mit dem Mikroskop, noch
mit der Wage, noch mit chemischen Reagenzien usw. etwas
dem Gehirn Analoges sich aufzeigen lässt, kann auch nichts
der Intelligenz des Menschen Analoges in ihm wirken." —
Die dritte Gruppe, die Theisten, denen mindestens eine der
sehr divergierenden pantheistischen Richtungen zugerechnet
werden muss, vertritt dagegen die Meinung, dass, wenn es
so aussieht, als ob intelligente Kräfte in den Naturlauf eingegriffen
und die Materie vom Sonnensystem bis zum Gehirn
des Menschen gestaltet haben, solche kosmische Intelligenz
auch wirklich und wirksam sei, die neben ihrer weit
grösseren Macht auch dadurch sich von der Intelligenz des
Menschen unterscheidet, dass sie nicht an eine materielle
Grundlage wie das Gehirn gebunden ist. — Natürlich ist
diese vermutetete kosmische Intelligenz nur analog, nicht
dientisch mit der menschlichen; in ihrer Erhabenheit fällt
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1908/0744