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Kurze Notizen
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sind jedesmal andere Einwände geltend gemacht worden.
Am häufigsten wird die von Helmholtz näher ausgeführte
Theorie zitiert, die von der scheinbaren Form des Himmelsgewölbes
ausgeht. Er schreibt diesem nach dem Vorgange
von Ptolemäus, Euler u. a. eine flachkuppelförmige Gestalt
zu, folgert daraus, dass uns der Mond am Horizonte weiter
erscheint, als im Zenith, und nach den Gesetzen der Perspektive
ist für uns von zwei Gegenständen gleicher Ge-
sichtswinkelgrösse derjenige, den wir für näher halten, der
kleinere, der fernere der grössere. Stimmt jene Voraussetzung
, dass der Himmel eine abgeflachte Kuppel ist, so
wäre damit das Problem gelöst; an der Richtigkeit dieser
Voraussetzungen hat man aber berechtigten Zweifel erhoben,
und in der Tat antworten die meisten Menschen auf die
Frage, ob ihnen der Mond im Zenith näher oder weiter erscheine
, ohne Zögern mit: „weiter"! Das beweist, dass auch
die Flachkuppeltheorie unzulänglich ist. Betrachten wir,
auf einem freien Felde stehend oder auf dem Meero, den
wolkenlosen Himmel und versuchen wir seine Form zu beschreiben
, so können wir folgendes aussagen: Am Horizonte
steht der Himmel den letzten erkennbaren Erdenpunkten
auf, er bildet dort eine senkrechte Ringmauer von ungenau
begrenzter Breite. Von einer gewissen, nicht sehr bedeutenden
Höhe an indessen hört dieser Eindruck auf, und wir
sind nicht mehr imstande, irgendeine Form noch zu erkennen
; es bleibt nur ein Blau übrig, an dem Gestalt,
Form, Wölbungsradius zu erkennen ein vergebliches Bemühen
ist. Der Himmel besteht also für unser Auge aus
zwei Teilen von wesentlich verschiedenen Eigenschaften:
ein Horizontstreif oder -ring, der als zur Erde gehörig auf-
gefasst wird, von sehr grosser, aber jedenfalls messbarer,
irdischer Entfernung, und ein Zenithanteil, an dem jede Entfernungsschätzung
ausgeschlossen ist. Bei der Beurteilung
der Grösse eines gesehenen Gegenstandes geht nun unter
irdischen Verhältnissen stets eine Schätzung seiner Entfernung
mit in das Urteil ein; die Gesichtswinkelgrösse
allein sagt uns nichts, die aus den Bewegungserinnerungen
stammende Erfahrung über das „Wieweit64 ergänzt jene erst
zu dem Urteil über die „wirkliche" Grösse. Die gewöhnlichen
optischen Täuschungen und Grössenschätz-
ungsfehler rühren fast sämtlich daher, dass unbemerkt
ein Irrtum über diese zweite Komponente des
Grösseneindrucks, eben die Entfernung, besteht. Wo nun,
wie es bei den Gestirnen im Zenithanteile des Himmels
der Fall ist, die aus den Bewegungserinnerungen stammende
Komponente völlig fehlt, wo wir über die Ent-
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