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156 Psychische Studien. XXXVI. Jahrg. 3. Heft. (März 1909.)
eine Forderung, welche wichtiger ist als die wissenschaftliche
Befähigung, ist die, daß er vorurteilslos und nicht
voreingenommen herantritt. Der Forscher darf keine Lieblingstheorie
mitbringen und darf keine vorgefaßten Meinungen
besitzten — seien sie pro oder contra —; er darf
nicht mit dem Wunsche beginnen, daß die Resultate seiner
Forschung diesen oder jenen Charakter haben sollen, er soll
lediglich erfüllt sein von dem ernsten Willen, zu finden, was
wirklich ist. „Warum ich diese Forderung aufstelle, sagt
Owen, werden jene am besten entscheiden, welche dies Buch
lesen. Niemand ist unparteiischer Richter über seine eigene
Unparteilichkeit. Ich mißtraue der meinigen. Ich bin mir
eines verwirrenden Elements bewußt: in meiner Seele ist
eine Neigung neben dem einfachen Wunsche, zu entdecken,
was wirklich ist. Nicht daß ich mich nach strenger Selbst-
erfor^chung anklagen könnte, daß ich irgend eine vorgefaßte
Meinung, sei sie wissenschaftlich oder theologisch, in
die Forschung einschieben wTollte, noch auch daß ich nicht
Willens wäre, irgendeine Anschauung, orthodox oder nicht,
anzunehmen oder aufzugeben, sobald sie den Fortgang
meiner Forschung aufhält oder vernichtet, — nein, das
nicht! Aber ich bin mir eines Gefühles bewußt, das sich
in mir mit dem Fortschritt meiner Studien noch gesteigert
hat, eines Wunsches, der nicht lediglich die Bereitwilligkeit
ist, die Phänomene mit leidenschaftslosem Gleichmut zu
untersuchen, sondern der die Hoffnung birgt, daß die Forschungen
beitragen möchten, die Unabhängigkeit und Unsterblichkeit
der Seele aus einer Quelle zu beweisen, aus
welcher solcher Beweis selten gesucht worden ist. Bei
dieser mit der menschlichen Natur verwobenen Neigung
muß der Forscher auf unserem Gebiet besonders auf der
Hut sein."
?Es ist leicht*, sagt Bonnet*) der gelehrte Genfer, „es
ist leicht und bequem, zu glauben; der Zweifel erfordert
unangenehme Anstrengung. Die Neigung zur Schlußfolgerung
auf ungenügenden Beweis hin ist größer, wenn wir
suchen, was wir sehnlichst zu finden wünschen. Unsere
Wünsche übertönen unser Urteil. Und was wTird so aufrichtig
gewünscht, als daß der gefürchtete Tod ein Freund
statt ein Feind sei, ein Freund, der uns die Pforte öffnet
zu einer besseren und glücklicheren Existenz, wenn der
dunkle Vorhang über die irdische Szene gefallen ist. Es
ist die allgemeine Ansicht, daß die völlig genügende und
einzig richtige Quelle für diese Uberzeugung die heilige
*) Naturforscher und Philosoph, r 1793.
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