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424 Psychische Studien, XXXVI. Jahrgang. 7. Heft. (Juli 1909.)
Einer solchen Analogie scheint der Umstand zu widersprechen
, daß Christus bei hellem Tageslichte erschien,
während die Phantome der Spiritisten in anscheinend verdächtiger
Weise das Dunkel bevorzugen. Doch auch von
dieser Regel gibt es Ausnahmen.
Eine wissenschaftlich genügende Erklärung hierfür
können wir bei dem derzeitigen Stande unserer Kenntnisse
zwar nicht geben, doch sei hier darauf hingewiesen, daß
alle organischen Neubildungen, das Kind im Mutterleibe,
der keimende Samen in der Erde, das junge Blatt in der
Knospe, zu ihrem Gedeihen das Dunkel verlangen, denn
das grelle Tageslicht besitzt eine bedeutende chemische und
besonders auflösend wirkende Kraft, die solchen zarten Neubildungen
nicht günstig ist.
Auch sei daran erinnert, daß die Phantome, wie durch
Wäge versuche nachgewiesen ist, einen Teil ihrer Stofflichkeit
einem bestimmten Medium, d. h. einem sensitiven
Menschen entziehen. Um diesen gesundheitlich nicht zu
schädigen, müssen ihm die Stoffe bez. Kräfte zurückerstattet
werden, und es läßt sich denken, daß dies im Dunkeln
besser zu bewirken ist als im zerstörenden Lichte.
Daß trotzdem Christus bei vollem Tageslichte erschien
, ist auch nach spiritistischer Erfahrung eine ungewöhnliche
Erscheinung. Doch das Ungewöhnliche derselben
rechtfertigt noch nicht die völlige Verwerfung des Vorganges
als einer Materialisation; denn, wie schon oben gezeigt
, sprechen andere Gründe: das Verbot der Berührung,
sowie das Erscheinen im verschlossenen Räume*) dafür.
Es ist ja möglich, daß dem Geiste Christi, vielleicht
infolge seiner großen sittlichen Reinheit, noch ganz andere
Möglichkeiten zu Gebote standen, sich sichtbar zu verkörpern
, als wir in spiritistischen Sitzungen kennen gelernt
haben. Auch die Annahme übersinnlicher Hilfen ist nicht
von der Hand zu weisen.
Mag dem nun sein wie ihm wolle, jedenfalls wird ein
Okkultist, &ei es auf Grund eigener Erfahrungen, sei es auf
Grund literarischer Studien, sich schwer hüten, die biblischen
Erzählungen von dem auferstandenen Christus, die ja
an sich schon den Stempel der Wahrheit tragen, ohne
weiteres ins Reich der Mythen oder der absichtlichen Erfindungen
zu verweisen. —
„Ein Geist kann nicht essen und trinken % sagte der
Prediger weiter. Hierin sehe ich als Okkultist allerdings
ein völliges Novum, das der spiritistischen Hypothese zu
*) Evang. Joh., Kap. 20, Vers 26
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