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544 Psych. Studien, XXXVI. Jahrg. 9. Heft. (September 1909.)
will ich versuchen, eine Antwort auf die letzteren Einwände
zu geben. In Paraguay (Südamerika) wird eine besondere
Rindviehrasse gezogen, die ganz der Hörner entbehrt. Sic
stammt von einem einzigen Stiere ab, welcher im Jahre 1770
von einem gewöhnlichen gehörnten Elternpaare geboren
wurde und bei welchem der Mangel der Hörner durch
irgend welche unbekannte Ursache veranlaßt worden war.
Alle Nachkommen dieses Stieres, welche er mit einer gehörnten
Kuh erzeugte, entbehrten der Hörner vollständig.
Man fand diese Eigenschaft vorteilhaft, und indem man
die ungehörnten Rinder untereinander fortpflanzte, erhielt
man eine hornlose Rindviehrasse, welche gegenwärtig die
gehörnten Rinder in Paraguay fast ganz verdrängt hat.
Dieses Beispiel, welches Häckel's Schöpfungsgeschichte entstammt
, zeigt uns aufs deutlichste, daß irgend eine Mißgeburt
die Entstehung einer neuen Gattung, bezw. eine Abweichung
vom Mutterstamme veranlassen kann. In diesem
Falle ist nun allerdings die betreffende Rasse vom Züchter
künstlich durch Paarung gezogen worden.
Bei der Entstehung neuer Arten wildlebender Tiere
kann natürlich von einer künstlichen Zuchtwahl keine Rede
sein, dafür tritt aber die natürliche Zuchtwahl ein; also ist
wohl auch anzunehmen, daß z. B. der Beutel des Beuteltieres
zunächst als Erscheinung einer Mißgeburt oder Abnormität
auftrat; die Entstehung einer ganzen Gattung daraus
ist aber nur denkbar durch eine Fortpflanzung dieses
abnormen Körperteiles infolge natürlicher Zuchtwahl.
Auch die Behauptung, wenn die Darwinsche Theorie
richtig wäre, so müßten doch auch im Menschengeschlecht
selbst neue Rassen entstehen, ist hinfällig. Es ist doch
wohl allgemein bekannt, daß auch unter den Menschen
Mißgeburten und Abnormitäten auftreten; ich erwähne hier
nur die Verlängerung des Rückgrates zu einem Schwanz,
was in seltenen Fällen vorkommt und wovon auch Dr. G.
H. Berndt in seinem schönen „Buch der Wunder und
der Geheim Wissenschaften" (Leipzig, O. Mutze) zu erzählen
weiß; ferner die sogen. Haarmenschen, deren Körper ganz
oder teilweise mit stark entwickeltem Haarwuchs bedeckt
ist. Die bekanntesten Fälle sind die Mexikanerin Julia
Pastrana, welche 1860 an der Geburt eines gleichfalls übermäßig
behaarten Knaben starb; die russischen Haar- oder
Hundemenschen Andrian und Feodor Jeftichjew (Vater
und Sohn); die haarige Familie von Amras, sowie das sogen
. „Affenmädehen* Krao aus Siam. (Siehe Dr. Bock: „Das
Buch vom gesunden und kranken Menschen.44) Diese erwähnten
Mißgeburten oder Abnormitäten haben sich nun
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