http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1909/0602
598 Psych. Studien, XXXVI. Jahrg. 10. Heft. (Oktoher 19i9.)
und von den schlafbefangenen Sinnen nur teilweise aufgenommen
werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die
das Leben eines Menschen beherrschende Leidenschaft auch
die Träume gestaltet. Der beständige Gedanke des Tages
mag sich in der Ruhe der Nacht einschleichen. So träumte
Kolumbus, daß ihm eine Stimme sagte: „Gott wird dir die
Schlüssel geben zu den Toren des Ozeans.44 *) Manch'
schwere Sehnsucht, die uns beschäftigt, wenn wTir uns zur
Ruhe begeben, kann in unserem Schlafbewußtsein auftauchen
und vielleicht in glücklicher Täuschung Gestaltung
gewinnen. Doch ist bemerkenswert, daß es nicht immer
herr&ehende Gefühle und lebhafte geistige Eindrücke sind,
welche die Träume beeinflussen; manchmal sind es auch
unbedeutende Begebnisse, die wir erlebt haben, ehe wir uns
zur Ruhe begaben, und welche sich dann in den Visionen
der folgenden Nacht verkörpern.
Es ist auch beobachtet worden, daß Träume durch Per-
sonen beeinflußt wurden, welche das Bett des Schlafenden
umstanden. Ein merkwürdiges Beispiel führt Dr. Aber-
crombie an: Bei einem britischen Offizier konnte man jede
Art von Traum erzielen, wenn man ihm in das Ohr flüsterte;
besonders gelang dies, wenn es von einem Freunde getan
wurde, dessen Stimme der Offizier kannte. In dieser
Weise führte man ihn in einen Streit, der mit einem Duell
endete; schließlich gab man ihm eine Pistole in die Hand,
er schoß sie ab und erwachte durch den Knall. Der Offizier
erinnerte sich des Traumes nur unbestimmt. — Ein ähnliches
Beispiel findet sich in der Naturgeschichte Smellie's
und ein weiteres erwähnt Dr. ßeattie: Einem Manne konnte
jeder Traum suggeriert werden, wenn dessen Freunde in
seiner Gegenwart ruhig von dem Gegenstand sprachen, von
dem sie wünschten, daß er träumen sollte. — Dieselbe Macht
scheint bisweilen ein Magnetiseur für die Person, die er
magnetisiert hat, zu besitzen. Foissac erzählt von seiner
Somnambule, Mlle. Coeline, daß er nicht nur während ihres
natürlichen Schlafes sie träumen lassen konnte,
was er wollte, sondern daß er ihr auch nach dem Erwachen
die volle Erinnerung an den Inhalt des Traumes zu verschaffen
vermochte. In dem künstlieh erzengten Somnambulismus
ist diese Kraft der Suggestion häufiger und deutlicher
hervortretend. Dr. Macario erzählt in seinem Werke
über den Schlaf ein schlagendes Beispiel, das sich in seiner
Gegenwart ereignete: Eine Dame litt unter hysterischen
Anfällen. Eines Tages fand sie der Arzt in tiefer Melan-
*) Humboldts „Kosmos*, vol. I, p. 316.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1909/0602