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644 Psych. Studien. XXXVI. Jahrg. 11. Heft. (November 1909.)
IL Abteilung.
Theoretisches und Kritisches.
Eine Rundschau.
Von Dr. med. Franz Freudenberg (z. Z. in Brüssel)*)
Wir befinden uns in einer Zeit der Gärung und der
Unruhe, und wenn wir den Prophezeiungen der Astrologen
trauen dürften, so würde diese stürmische Zeit sobald noch
nicht ihr Ende erreichen. Es sind nicht nur neue Ideen
auf politischem, sozialem und religiösem Gebiete, welche
sich zur Anerkennung durchringen wollen, sondern die Unzufriedenheit
, die nervöse Unruhe der Menschheit ist eine
ganz allgemeine. Auch die geistigen Kämpfe, statt sie in
friedlicher, ruhiger und besonnener Weise auszutragen,
nehmen vielfach einen leidenschaftlichen, persönlichen Charakter
an, entwürdigen die höchsten Ziele zu Parteibestrebungen
und schieben das Sachliche gegenüber dem
Persönlichen in den Hintergrund. Denken wTir nur an den
großen Zwiespalt, der neuerdings zwischen den Theosophen
ausgebrochen ist, weil sich die „Mütter vom purpurfarbigen
und vom weißen Lotus" feindlich gegenüberstehen. Die
Hohepriesterin der amerikanischen Theosophen, Catherine
Tingley, hat es übel vermerkt, daß Annie Besant, welche
in England die gleiche Profession ausübt, eine Vortragstournee
in den Vereinigten Staaten gehalten hat, welche
sich großen Beifalls zu erfreuen hatte und ihre Eifersucht
erweckte. Dieses eine Beispiel, ein rechtes Zeichen der
Zeit, möge für viele genügen. —
Daß die allgemein herrschende Unruhe auch die legitimen
Bestrebungen des Okkultismus nicht verschont, erscheint
leicht verständlich. Wenn in der Presse derselben
vielfach, wie mir scheint manchmal etwas allzulaut oder zu
vorschnell, auspubaunt wird, daß die Tatsachen desselben
bei diesem oder jenem Gelehrten Anklang gefunden, hier
oder dort in Zeitschriften oder Tagesblättern eine gerechte
Würdigung erzielt hätten, so möchte ich dem entgegenhalten
, daß es sich dabei häufig nur um ephemere Erscheinungen
handelt, die den Tag nicht überdauern und
bitterer Enttäuschung Platz machen. Auch sind der
Schwalben noch nicht genug, um einen Sommer zu machen.
Nein, so wie ich die Sache ansehe, ist der wissenschaftliche
*) Die Ausführungen des hochgeschätzten Herrn Verfassers
sind uns aus dem Herzen gesprochen und entsprechen genau den
Grundsätzen unserer {Schriftleitung. — Eed.
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