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716 Psych. Studien. XXXVI. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1909.)
schon diese lassen sich mechanisch nicht ganz verstehen.
Denn ihre jeweilige Tiefe hängt weniger von der Stärke
der betreffenden Wahrnehmungen ab, als von deren Wichtigkeit
für die Lebenszwecke des Individuums. Und auch
um sich des bloßen räumlichen oder zeitlichen Zusammenhanges
zweier Vorstellungen bewußt zu werden, müssen
schon beziehende Tätigkeiten oder „Kategorialfunktionen44
ins Spiel treten. Darum ist selbst das sogenannte „ mechanische
Gedächtnis 44 in Wahrheit nicht rein mechanisch zu
erklären. ^ Noch deutlicher aber zeigt ms das „logische
Gedächtnis44 mit seiner Unabhängigkeit von allen äußeren,
zufälligen Zusammenhängen, daß eine unbewußt vernünftige
Geistestätigkeit die mechanischen Hirnvorgänge beherrscht
und nicht bloß beim Eingraben der Gedächtniseindrücke,
sondern auch bei deren Wiedererregung zweckmäßig auswählend
mitwirkt (161—163).
Das Denken, als Ablauf der so erneuerten Vorstellungen
im Gegensatz zu der Wahrnehmungsfolge, ist
also weder eine automatische Mechanik oder physische
Chemie selbständiger Bewußtseinsinhalte, noch eine Leistung
der Bewußtseinsform, noch eine bloße Folge der molekularen
Hirnmechanik, sondern vielmehr eine unbewußte
seelische Tätigkeit, welche die von ihr selbst vorbereiteten
materiellen Anlagen zweckmäßig benutzt und nur mit ihren
Ergebnissen Schritt für Schritt ins Bewußtsein fällt. So
erst wird es erklärlich, daß das Denken nach logischen,
ethischen und ästhetischen Normen urteilt und nach logischen
Gesetzen schließt. Paradox aber erscheint das
„unbewußte44 Denken dem gewöhnlichen Menschen doch
nur deshalb, weil dieser die Aufeinanderfolge der ins Bewußtsein
hineinfallenden Ergebnisse oder Fußstapfen des
Denkens mit der Tätigkeit seines Schreitens verwechselt.
Oder weil eine Reihe einzelner seelischer Erscheinungen
(ebenso wie die ßeihe der Bilder im Kinematographen)
durch ihre rasche Aufeinanderfolge den Schein einer
stetigen Bewegung hervorbringt. Aber schon die physiologische
Betrachtung zerstört diesen Glauben. Schon für
sie ist das .Denken Iis Tätigkeit unbewußt. Und so wenig
wir die Hirnmechanik wahrnehmen, ebenso wenig nehmen
wir die sie leitende Seelentätigkeit wahr. Auch schwächt
sich der Schein, als ob man die Denktätigkeit im Bewußtsein
selbst belauschte, um so mehr ab, je mehr Zwischenglieder
ausgeschaltet oder von vornherein übersprungen
werden, wie es bei oft wiederholten oder bei neuen
genialen Gedankengängen geschieht (163—165). überall
aber, ob langsam oder sprunghaft, vollzieht sich das
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