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26 Psychische Studien. XXXVII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1910.)
seines Wesens ihr ewig fremd bleiben müsse, wenn es ihr
nicht gelinge, seine Art, seine Abstammung zu erkunden.
Das Nichtwissen dieser Punkte bringt selbst in die liebende,
in die vertrauendste Seele Unruhe und nagende Zweifel.
Sie fürchtet, daß sie mit irgend einem Worte dem Gekann-
ten-Unerkannten zu nahe treten, ihn verletzen könne; sie
zittert in dem Gedanken, daß er eines Tages sie verlassen
und in die Nebel seiner Vergangenheit zurücktauchen
werde. Unfähig, ihm vollen Glauben zu schenken in ihrem
Herzen, wusste sie sich doch willig zu glauben, was er sie
glauben läßt, nur damit er nicht gekränkt und vertrieben
werde durch Mißtrauen. So kann es kommen, daß sie das
Wundersamste für wahr hält und vor sich selbst als zutreffend
verteidigt, obwohl es ihr an Gründen zu solcher
Verteidigung mangelt. —
Diese Eigenschaft des Menschen, gegenüber rätselhaften
Begebnissen und Persönlichkeiten selbst die tollste Erklärung
als zutreffend zu betrachten, um nur nicht in die
Lage zu kommen, das Rätsel als solches leugnen oder die
eigene Unfähigkeit, es zu lösen, eingestehen zu müssen,
benutzte St. Germain, um in die elegante Welt zu Mitte
des 18. Jahrhunderts Eingang zu erhalten. Unbekannten
Herkommens, bediente er sich bald dieses, bald jenes Namens,
um schließlich als Graf von St. Germain zu sterben. Einige
behaupten ihn als Marquis de Montferrat gekannt zu haben;
nach anderen war er 1710 zu Venedig als Graf de Bella-
mare aufgetreten; sicher ist, daß er sich während seines
Aufenthaltes in Leipzig Chevalier Welldone nannte, und
während seines Verweilens in Trießdorf, dem Sommersitze
des Markgrafen Christian Friedrich Karl Alexander von
Brandenburg, führte er anfänglich das Pseudonym Tzarogy,
wenn man überhaupt von Pseudonym bei der in Bezug
auf Namen wenigstens chamäleontischen Persönlichkeit des
Grafen sprechen kann. Auch über sein Alter war man im
Ungewissen, was nicht wenig die allgemeine Meinung bestärkte
, daß er im Besitze eines Lebenselexirs sei. Er
hütete sich jedoch wohl, vor Scharfblickenderen mit seinem
hohen Alter zu prunken oder seine Panacee zu rühmen.
Wenn in solchem Kreise das Gespräch auf den einen oder
den anderen Gegenstand kam, so wich er lächelnd aus.
Der Marquise von Pompadour entgegnete er auf ihre
Frage, ob er in der Tat auf ein Alter von 500 Jahren zurückblicken
könne: „Einige Male habe ich mich damit amüsiert
, nicht glauben zu machen, wohl aber glauben zu lassen,
daß ich in den ältesten Zeiten gelebt habe.* Und als ihm
gesagt wurde, daß die Gräfin von Gergy behaupte, ihn vor
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