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Freimark: Der Graf von St. Germain, ein Adept. 29
in Verbindung gestanden habe. Diese Ansicht ist jedoch
irrig. Zwischen dem in gewisser Hinsicht wirklich genialen
und auch in Bezug auf mystisches Wissen und magische
Kenntnisse ungleich bedeutenderen Groß-Kophta und dem
bedenklich an einen modernen Industrieritter erinnernden
vagierenden Grafen gab es nicht einmal flüchtige Beziehungen
. Etwas anderes könnte es mit den Illuminaten sein.
Die damalige das Logen- und Geheimbundwesen ungemein
begünstigende Zeitströmung, die Benutzung der Orden als
Deckmantel zu religiös und politisch reformerischen Plänen,
ebenso wie in schwindlerischer Absicht, lassen sehr wohl
der Möglichkeit Eaum, daß auch St. Germain einem solchen
Bunde angehörte und von ihm als Emissär gebraucht wurde.
Eine bedeutende Rolle aber hat er weder als solcher, noch
überhaupt im damaligen Logenwesen gespielt.
Wer St. Germain war? Trotz aller Bemühungen ist
es niemandem, selbst keiner Polizeibehörde gelungen, seine
Abkunft zu entdecken, ja nicht einmal sein Vaterland ließ
sich feststellen. Tu der damaligen Zeit fiel diese Unsicherheit
über seine Abstammung für die staatlichen Organe
nicht ins Gewicht. Sie nahmen an, und mußten nach
seinem Auftreten annehmen, einen Herrn von Stande vor
sich zu haben, und dieses Faktum genügte ihnen als Legiti-
mation. Heu'te würden * etwas w^nigf' entgegenkommend
sein, zumal wenn über die Abkunft der besagten Persönlichkeit
so viel widersprechende Gerüchte im Umlauf wären,
wie seinerzeit über St. Germain. Ob irgend eines von
diesen Gerüchten mit einiger Berechtigung kolportiert
wurde, darüber läßt sich kein Urteil fällen. Interessant
jedoch ist, was Montaigne berichtet. Nach seiner Angabe
ist St. Germain in Vitri geboren und dort bis zu seinem
22. Jahre als Mädchen erzogen worden, bis durch einen
Zufall sein wahres Geschlecht entdeckt wurde. Für die
Richtigkeit dieser ^Mitteilung scheint neben anderem St.
Germain's jugendlicheres Aussehen selbst in hohem Alter
zu sprechen; denn es ist eine allgemein bekannte Tatsache,
daß männliche Naturen mit einem femininen Einschlag
länger jung bleiben als die rein virilen Charaktere. Es ist
als ob ein gewisser Grad von Androgynie vorteilhaft sei
für die Bewahrung der Jugend. Aus dieser Erkenntnis
heraus bevorzugte beispielsweise die griechische Kunst
und später die ihr in vielem verwandte der Renaissance
in ihren Darstellungen die Androgynen, ja sie ähnelte alle
Gestalten diesen an, indem sie die Jünglinge zart, die
Frauentypen herb wiedergab. Zugleich aber lag und liegt
in dieser Darstellung ein tieferer Sinn: es offenbart sich in
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