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88 Psychische Studien. XXXVII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1910.)
enden), in dem etwa fünf Pfarrer ihre diesbezüglichen Erlebnisse
aufgezeichnet hatten, darunter einer in lateinischer
Sprache. Es wäre sehr zu bedauern, wenn dieser Akt
nicht mehr aufgefunden würde. —
Ich erzählte unlängst diese Vorfälle einem sehr skeptischen
Hochschulkollegen, der an den Tatsachen nicht nörgeln
wollte, aber meinte, es könne das Unterbewußtsein einer in
der Nähe des Pfarrhauses vorhandenen Person auf das
Unterbewußtsein des Pfarrers L. gewirkt haben. Aber
dieser „natürliche* Erklärungsversuch bietet zu viele Un-
wahrscheinlichkeiten, als daß er im Ernste in Betracht
kommen könnte. Ich erwähnte bereits- in dem I. Teile,
daß das Pfarrhaus zu W. ganz einsam liegt. Nur zwei
Bauernhöfe befinden sich in der Nähe. Man müßte
also annehmen, daß eine dort wohnende Person eine lange
Reihe von Jahren hindurch (es handelt sich wohl um mehr
als 50 Jahre) durch ihr Unbewußtes auf das Unbewußte
des Pfarrers L. nicht nur, sondern auch seiner fünf Vorgänger
und seines Nachfolgers eingewirkt hätte, und nicht
nur dies, sondern auch auf alle die oben erwähnten Personen
und den Hund des Pfarrers L., sowie auf den des jetzigen
Pfarrers B. (vergl. den Bericht in dem I. Teil). Eine
solche Annahme ist geradezu absurd; denn es fehlt ihr
jeder Schein eines ernsten Beweises. Und wo kämen wir
denn mit unserer ganzen Persönlichkeit, unserem Geistesleben
, unserer Selbsverantwortlichkeit hin, wenn eine so
ungemessene Ausdehnung ohne Grenzen dem sog. Unterbewußtsein
und seinen spukhaften Wirkungen gegeben wird?
Waa ist denn noch unser geistiges Eigentum, unser Gedanke
und Wille, wenn unser Inneres geradezu der Tummelplatz
eines fremden Unterbewußtseins sein soll ? Und wie konnte
jenes fremde Unterbewußtsein die Wünsche so vieler
Kranker in der weit zerstreuten Pfarrei und jenes verunglückten
Arbeiters, dem ein Eisenbahnzug beide Beine
abgefahren hatte, erkennen? Wir müßten annehmen, daß
auch da wieder eine ganze Reihe von Unterbewußtseins
auf das Unterbewußte jenes Pfarrhausnachbars gewirkt
hätte und kämen so aus dem Hexenkessel des Unterbewußtseins
gar nicht mehr hinaus. Es ist auch kaum
anzunehmen, daß alle sechs Pfarrer nach einander befähigt
waren, solche Wirkungen in sich aufzunehmen; denn dazu
gehört doch eine gewisse Disposition, die nicht alltäglich
ist, und warum haben diese Personen weder vor-, noch
nachher solche Wirkungen wahrgenommen? Man möge also
nicht glauben, etwas „ erklärta zu haben, wenn man an die
Stelle eines Rätsels zehn neue setzt.
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