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46 Psychische Studieo. XXXVII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1910.)
das entsprechende Wunder und zeigte sieh wohl selbst der
erstaunten Menge, doch nicht länger und nicht öfter, als
gerade notwendig war, um Staunen und Furcht zu erzeugen
. Schon das mystische Dunkel der Tempel und die
Finsternis der unterirdischen Gräber prädisponierte zur
Furcht. Die gewaltigen Massen der Bauten, die ungeheure
Ausdehnung der Wohnstätteu der Heroen und Götter
hatten den Zweck, die Ohnmacht des Menschen zur Anschauung
zu bringen. Rituelle Feierlichkeiten größten
Stiles sollten diesen Eindruck noch erhöhen. Auf dieses
Staunen, auf das Gruseln vor der Macht und dem Wunderbaren
war es überhaupt abgesehen. Unter dem Drucke
dieser Gefühle erlahmten die rohen Instinkte der unwissenden
Menge und dieser Druck zwang sie zur Unterwerfung
unter die Herrschaft einer höheren Kultur.
Doch in Ägypten änderten sich plötzlich die Zeiten.
Unter der materiellen Abhängigkeit von Rom und unter
dem geistigen Einflüsse von Hellas kamen neue Ideen ins
Land. Die alte Kulturform zerbrach, die esoterische Wissenschaft
zerfiel und die Geheimlehre sickerte ins Volk. Nicht
zu seinem Segen. Es war für die höhere Kultur noch
nicht reif genug, und das Volk ging politisch unter. Die
Fähigkeit, Phantome zu erzeugen, wurde besonders durch
Christus demokratisiert. In allen Schichten der Bevölkerung
erstanden Wundertäter. Das führte zu den religiös-
anarchischen Zuständen der ersten Jahrhunderte unserer
Zeitreichnung. Uberall geschahen Zeichen und Wunder,
aber es fehlte die Einheit der Organisation. Das wurde
später von Rom aus verbessert. Es stellte den Wundertäter
wieder als offiziellen Staatsbeamten an, allerdings in
veränderter Form und meist erst nach seinem Tode. Doch
die einmal entschlüpfte mystische Kunst war nicht mehr
restlos einzufangen. Sie vererbte sich noch immer sporadisch
auf Unberufene, welche damit nichts anzufangen
wußten. Man verbrannte sie bis vor kurzem als Ketzer.
Die weiße Magie treibt auch heute noch zahlreiche
Knospen, aber ihre schwarze Schwester, verfolgt von Kirche,
Staat und Wissenschaftlern, hat sich jetzt in eine dunkle
Ecke des modernen Salons geflüchtet, aus der sie uns mit
ihrem Splunxgesichte narrt. —
Ist die Blütezeit der Wunder vorbei? Haben diese
ihre Früchte getragen und Mutter Natur bedarf nicht mehr
ihrer Dienste? Hat sie etwa ein neues, kulturfördernderes
Mittel ausgetüftelt, dessen schnelles Wachstum dem Wunder
Licht und Luft raubt? Ist die Zaüberei endgiltig dem
Untergange geweiht? Ist das Dunkelkabinett nur der
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