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48 Psychische Studien. XXXVII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1910.)
sein Analogem. Die Organisation und Differenzierung der
Gesellschaft hat somit in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit
mit der Organisation des Tier- und Pflanzenkörpers. Man
könnte also sagen: wie ungezählte mikroskopisch kleine
Lebewesen (die Zellen) den tierischen Körper aufbauen, so
bauen auch viele menschliche Individuen den sozialen
Körper auf. Dieser Parallclismus wäre also etwas mehr
als eine rhetorische Figur, denn er stützt sich auf eines
der bestbegründeten Erfahrungsgesetze, die Einheit der
Kräfte und die Wiederholung ihrer Wirkungen.
Dabei ist jedoch festzuhalten, daß die physiologische
Funktion der Vermehrung am sozialen Körper — wenn sie
überhaupt als solche existiert — nur im Verroehrungspro-
zesse der niedrigsten Lebewesen ihr Analogon haben kann.
Es befindet sich nämlich der Organismus der Sozietät
zweifelsohne erst im Anfange der Entwickelung, seine Teile
sind zu homogen und seine Elemente zu wenig differenziert
im Verhältnisse zu den Zellen des tierischen Individuums
höherer Klasse. Es wird sich daher auch der Prozeß der
Fortpflanzung in der primitiven Form der Teilung vollziehen,
wie sie eben bei niedrigen Lebewesen anzutreffen ist.
Jn der Tat bilden sich die neuen Staaten und andere
»soziale Gemeinwesen durch Teilung.*) Da nun auch die
Gesellschaft den Gesetzen der Evolution unterworfen ist,
so muß ihre zukünftige Entwickelung sich in der Richtung
einer stetig wachsenden Differenzierung ihrer Teile und
deren Funktionen vollziehen, und daher ist die Vermutung
nicht ganz unberechtigt, daß sich auch im Vorgange der
Vermehrung der sozialen Individuen bereits Anfänge zu
einer minder unvollkommenen Fortpflanzung vorfinden.
Wird nun das Phantom und das mediale Wunder als
ein solcher Anlauf der Natur aufgefaßt, so ergibt sich da-
*) Dieses die ganze Natur beherrschende Gesetz, das weiterhin
zur Arbeitsteilung und — wie Unterzeichneter in seinem
«Versuch einer monistischen Begründung der Sittliehkeitsidee*
(Stuttgart, Konrad Wittwer, 1876) des Näheren zu beweisen suchte
— vermöge der Fähigkeit des Menschen, sich der allgemeinen
Ordnungsgesetze und Vereinigungstriebe allmählich
bewußt zu werden, schließlich durch Elimination des Unzweckmäßigen
zur menschlichen Sittlichkeit und zum Rechtsstaat
führt, hat seinerzeit Prof. E. Häckel klassisch schön in
seiner Studie „Über Arbeitsteilung in Natur- und Menschenleben*
(Berlin 1869) am Beispiel eines Hydromedusenstocks für die
schwimmenden Tierstaaten der Siphonophoren nachgewiesen und
zugleich gezeigt, daß dasselbe nicht nur bei allen in Genossenschaft
lebenden Tieren — besonders deutlich bei den Insektenstaaten der
Ameisen und Bienen —, sondern ebenso im Pflanzenleben, ja schon
in der Entwickelung der Zelle hervortritt. — Mai er.
Inst. f. Grenz§eb.
der Psychologie
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