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122 Psych. Studien. XXXVIL Jahrg. 2. Heft. (Februar 1910.)
spannt. Noch ehe der Fuhrmann den Futtertrog an die
Deichsel hängt, um seinem Braunen das übliche Futter vorzusetzen
, fliegen von den Dächern eine größere Anzahl
Tauben herbei und nähern sich zutraulich dem Pferde.
Inzwischen ist der Häcksel mit Hafer vermischt in den
Futtertrog eingeschüttet und das hungrige Tier läßt sieh's
vortrefflich schmecken, während die Tauben auf ihren Anteil
warten. Ein Beobachter schreibt darüber dem „Tierfreund
* : Ich betrachtete vorübergehend den Vorgang und
war erstaunt, zu sehen, wie das Pferd Lach einiger Zeit mit
Fressen einhielt und mit gesenktem Kopf die Taubenschar,
welche dicht an seinen Füßen herumkrabbelte, anscheinend
wohlwollend betrachtete. Hierauf nahm es aus seinem
Troge ein Maul voll Futter, senkte wiederum den Kopf
und ließ es unter die Tiert herabfallen, was mehrere Male
wiederholt wurde. Zuerst schrieb ich dieses Gebahren
einem Zufall zu, machte aber **m anderen Tag dieselbe Erfahrung
und erfuhr nun auch von dem jungen Fuhrmann,
der auf diese Bemutterung der gefiederten Gäste durch
seinen Gaul schon längere Zeit aufmerksam geworden war,
daß sich diese Szene jeden Tag wiederhole und daß der
vierbeinige Wohltäter es nicht bei kleinen Gaben bewenden
lasse, sondern oft einen beträchtlichen Teil seines Futters
einer edlen Begung zum Opfer bringe. — 2) Die Mutterliebe
einer Störchin kam bei einem Brande im Dorfe Schönebeck
in der Altmark in rührender Weise zum Ausdruck. Auf
dem Dache eines Hauses befand sich ein Storchnest mit
drei Jungen. In höchster Sorge umkreiste die Störchin
während des Brandes die Feuerstätte und das Nest. Als
sich die Flammen dem Neste in bedrohlicher Weise
näherten, stieg die Störchin aus der Höhe herab, ließ sich
auf dem Nest nieder, breitete ihre Flügel schützend über
die Jungen aus und verbrannte mit ihren Schützlingen.
f) Daslustitut für zoologische Psychologie
in Paris wird mit Beginn des neuen Jahres eine Spezialschule
für Tierbändiger eröffnen. Man will die wilden
Tiere nicht, wie bisher, durch äußere Gewalt, sondern nur
durch psvehische Beeinflussung zähmen. — Wir selbst
zweifeln nicht daran, daß durch früh begonnene und fortgesetzte
, zielbewußt gute Behandlung selbst Raubtiere — nach
den Erfahrungen des Direktors des Berliner zoologischen
Gartens Dr. Heck, vielleicht mit Ausnahme von Bären und
Hyänen —, da die Tiere für empfangene Wohltaten bekanntlich
im Durchschnitt dankbarer sind, als die meisten
Mensehen, gewissermaßen ,vermenschlicht* werden können,
vorausgesetzt, daß sie nachher nicht mutwilliger oder unvor-
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