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v. Schnellen: Haeckel's „Stammesgeschichte des Bewußtseins*. 269
hoben (W. 75). Bei unbefangener Betrachtung, so versichert
er uns, finden wir „kein einziges Gebiet menschlicher
Wissenschaft, das den Rahmen der Naturwissenschaft (im
weitesten Sinne des Wortes) überschritte* (L. 37, 189).
Und vor allem ist es „eine veraltete Ansicht, daß das Bewußtsein
ein Welträtsel für sich44 (M. 44) und aus materiellen
Bedingungen nicht zu erklären sei (W. 74, 77).
Allerdings — das muß auch Haeckel zugeben — ist
das Bewußtsein außerordentlich schwer wissenschaftlich zu
untersuchen und zu deuten (W. 71), und zwar deshalb, weil
es nicht wie andere Gegenstände von außen, sondern immer
nur von innen zugänglich ist (L. 9), also nicht objektiv mit
den Sinnen oder Maaßstäben der Naturwissenschaft, sondern
nur subjektiv auf dem Wege innerer Selbstbeobachtung erforscht
werden kann (W. 42). „Die einzige Quelle unserer
Erkenntnis des Bewußtseins ist dieses selbst (W. 71). Und
wir wissen von ihm „eigentlich nur insofern, als es die unmittelbare
Erfahrung unseres eigenen Innenlebens ist*
(W. II, Taschenausgabe S. 72). So nimmt das Bewußtsein
ohne Frage eine ganz eigentümliche Stellung ein (W. 42)
und sein eigentliches Wesen erscheint uns notwendig sehr
rätselhaft (L. 9, 115). Unter allen Lebenswundern kann
es noch heute als das größte und erstaunlichste angesehen
werden (L. 11). Und jedenfalls ist es von allen Äußerungen
des Seelenlebens die wunderbarste (W. 70; T. II,
146). Deswegen hat Haeckel es schon früher als „das
psychologische ZentralmysteriumÄ bezeichnet (W. 70). Und
er" findet es zum mindesten nicht unbegreiflich, daß über
sein wahres Wesen, ja schon über seinen wahren Begriff,
seinen Inhalt und Umfang die Ansichten der angesehensten
Denker und Naturforscher weit auseinander gehen (W. 70,
71). Aber bedauerlich bleibt es ihm bei alledem doch,
daß das Bewußtsein -so eine Quelle unzähliger und schwerwiegender
Irrtümer (W. 42), ja recht eigentlich die feste
Zitadelle alles mystischen Dualismus geworden ist (W. 70).
Und wenn wir uns nur der Entwicklungslehre anvertrauen,
so meint er, gelangen wir auch hier zum natürlichen Verständnis
der Erscheinung (L. 12) und erkennen, daß wir es
beim Bewußtsein nur mit einem physiologischen oder neurologischen
, aber nicht mit einem transszendenten Problem
zu tun haben (W. 74, 75).
Zunächst nämlich lehrt uns schon die aufmerksame
Selbstbeobachtung, wie tausendfach bewußte und unbewußte
Handlungen in einander übergehen. Zahlreiche
Tätigkeiten, die anfangs mühsam, mit Bewußtsein und
Überlegung erlernt werden mußten, werden allein durch
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