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v. Schnellen: Haeckel's „Stammesgeschichte des Bewußtseins". 271
*
Anschauung umgesetzt (V. II, 186; L. 7, 12, 119; W. 50).
Und ebenso steht es mit den anderen Sinnen. Bei jeder
äußeren Wahrnehmung gewinnen die Sinnesorgane samt
den zugehörigen Nerven und Zentralteilen zunächst ihre
„Kenntnisse von der Außenwelt* in der Form von unbewußten
Empfindungen; aus diesen werden dann durch die
verknüpfende Tätigkeit der „Assozionszentren* [sie! Red.]
unbewußte „Bilder" oder Vorstellungen gewonnen, und diese
werden dann erst nachträglich im Bewußtsein der Denkherde
gespiegelt (L. 7; vergl. W. 67, 118).
Aufmerksame Selbstbeobachtung und unbefangenes
Nachdenken überzeugen uns also nach HaeckePs Ansicht
davon, daß das Bewußtsein nur einen kleinen Teil der
seelischen Vorgänge umfaßt, während der weitaus größere
und wichtigere Teil sich im Unbewußten abspielt (W. 44,
73—74). Zugleich aber erkennen wir, daß bewußte und
unbewußte Seelenvorgänge durch keine scharfe Grenze geschieden
sind, sondern in engstem Zusammenhange stehen
und fließend ineinander übergehen (W. 71; V. I, 190).
Ferner sehen wir an jedem Kind, wie an jedem höheren
Tiere, daß Vernunft und Bewußtsein bei der Geburt noch
nicht vorhanden sind, sondern sich im Zusammenhang mit
bestimmten körperlichen Organen erst langsam und allmählich
entwickeln (V. 1,190; II, 293; L. 136; W. 76).
Und schließlich zeigt uns die vergleichende Betrachtung
des Seelenlebens der Tiere, daß bei ihnen alle denkbaren
Stufen des Bewußtseins vertreten sind und daß eine lange
Stufenleiter von unbewußten zu bewußten Wesen ununterbrochen
hinaufführt (V. I, 190—191; II, 293; W. 71, 72,
75). Aus allen diesen Tatsachen aber dürfen wir den
Schluß ziehen, daß das Bewußtsein auf einer verwickelten
Tätigkeit der Seelenzellen beruht, die auf Grund vorangegangener
unbewußter Seelenvorgänge im Laufe der
ItfmrLgeschichte erst allmählich Horben und durch
Vererbung neuer Anpassungen langsam weiterentwickelt
wurde (V. I, 192; W. 75; L. 12; vergl. W. 48—51).
Allerdings haben manche Denker und Naturforscher
schon den Atomen ein bewußtes Empfinden zugesprochen,
offenbar, weil sie bei der Frage nach der ersten Entstehung
des Bewußtseins eine Schwierigkeit empfanden, die sie
so am leichtesten zu überwinden glaubten (W. 73). Und
Haeckel gibt ihnen auch zu, daß bei dem eigenartigen
Wesen des Bewußtseins dessen Ableitung aus anderen
Seelenzuständen immerhin höchst bedenklich erscheint
(W. 73; vergl. V. I, 190). Aber er selbst kann sich die
ursprünglichen seelischen Tätigkeiten der Empfindung und
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