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272 Psychische Studien. XXXVII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1910.)
des Willens, die auch er den Atomen zuschreibt, doch nur
unbewußt vorstellen. Und du Bois-Reymond wird hart dafür
angelassen, weil er ihm, Seele und Bewußtsein mit einander
verwechselnd, fälschlich die Annahme eines Atombewußtseins
untergeschoben habe (W. 73; V. II, 60).
Eher würde Haeckel schon daran decken, das Bewußtsein
als eine Eigenschaft jeder lebenden Zelle zu betrachten, ja,
früher hat er diese Ansicht tatsächlich vertreten. Und sie
läßt sich, so meint er, auch heute noch nicht endgiltig
widerlegen. Indeß ist er selbst doch später von ihr zurückgekommen
und nimmt jetzt mit Max Verworn an, daß bei
den Protisten oder einfachsten einzelligen Urtieren die
seelischen Vorgänge der Empfindung und Bewegung (!)
noch ganz unbewußt seien (W. 73, 63). Ja selbst der
größeren Mehrzahl aller vielzelligen Tiere glaubt er, ebenso
wie natürlich den Pflanzen auch, ein Bewußtsein noch
absprechen zu müssen. Und wenn sich leider auch die
Grenze, bis zu welcher das bewußte Seelenleben hinabreicht
, nicht sicher bestimmen läßt (W. 73, 77), so dünkt
ihm persönlich unter den verschiedenen darüber aufgestellten
Lehren doch am wahrscheinlichsten die Annahme
, daß das Bewußtsein nur bei einem zentralisierten
Nervensystem und hochentwickelten Sinnesorganen zustande
. komme (W. 71—73; vergl. 48—52), weshalb es mit voller
Sicherheit auch nur den höheren Säugetieren, vor allem
den uns am nächsten verwandten Säugetieren zugeschrieben
werden könne ("W. 75, 73—74, 50). Und wahrscheinlich
auch noch einem Teile der höheren Wirbellosen, besonders
der Gliedertiere, wie Bienen, Ameisen usw. (W. 48, 51;
ähnlich W. II, 72).
Aber wenn wir so leider auch nicht imstande sind,
tiefer in ihre Einzelheiten einzudringen, so dürfen wir eine
solche „natürliche Stammesgeschichte des Bewußtseins*
doch im Grundsätze als unzweifelhaft behaupten (W. 77;
V. I, 192; H, 293). Schon die Tatsache, daß das Bewußtsein
gleich allen anderen Seelentätigkeiten an die normale
Ausbildung bestimmter Organe gebunden ist und sich bei
jedem Kinde im Zusammenhang mit eben diesen Organen
erst allmählich entwickelt, läßt nach HaeckePs Ansicht darauf
schließen, daß es auch innerhalb der Tierreihe sich im
Laufe der Stammesgeschichte stufenweise herangebildet hat
(W. 77). Und so ist denn auch das ganze Kapitel über
die „Stufenleiter der Seele" (W. 47—55) von
diesem Gedanken einer allmählichen Entstehung des Bewußtseins
durchdrungen. In der Skala der Empfindungen,
wie in der der Beflexe, in denen derVorstellungen und des Ge-
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