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Kaindl: Ton und Musik.
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gleichfalls imstande sind, Farben- und Tonempfindungen
auszulösen. Wenn daher nachgewiesen werdfcn kann, daß
die Elemente der Farbe und Musik bestimmte
psycho-physische Beziehungen
zu einander haben, dann wird die naturgemäße Folge
davon sein, daß die Verbindungen eines jeden von beiden,
wie wir sie in den Farbennuancen und in den musikalischen
Akkorden vorfinden, gleichfalls in Wechse 1-
beziehung zu einander stehen können und daß die
subtile Verbindung, welche in unserem Bewußtsein zwischen
Tonkunst und Malerei zu bestehen scheint, auf
diese Weise ihre Erklärung finden kann.
Die Musik ist ein Mittel, welches in der Hand eines
bedeutenden Komponisten die Macht einer malerischen
Suggestion (Eingebung) besitzt. Bei Menschen, die für
ihren Einfluß in einem hohen Maaße empfänglich sind,
haben hervorragende Meister dieser Kunst, wie Händel,
Mendelssohn, Beethoven, Mozart, Wagner usw., in ihren
Oratorien und Opern die Macht anschaulicher Darstellung.
Ihre Musik ist in einem hohen Grade schildernd: — Szenerien
und dramatische Vorfälle werden der Phantasie beinahe
ebenso lebhaft eingeprägt, wie dem Gesichtssinn,
wenn sie von einem großen Künstler auf Leinwand gemalt
sind. Wie wirkungsvoll .«zeigt sich z. B. die anschauliche
malerische Darstellungskraft der Musik beim Anhören
großer Oratorien, wie etwa Haydn's „Schöpfung*! Jeder
Vorfall in dem betreffenden sich vollziehenden Schauspiel
scheint unmittelbar vor unser geistiges Auge gerückt zu
sein; man vergegenwärtigt sich das, was „am Anfange*
war, das Chaos, und dann „die Erde, ohne Form und leer".
Die Musik verdolmetscht uns dies in einer solchen
Sprache, wie es keine Worte vermögen, und bei dem
folgenden „Gott sprach, es werde Licht!* glaubt man sich
einer Welt bewußt*zu sein, die ganz in Licht gebadet ist,
und vor der die Schatten und die Finsternis, die sie zuvor
umgaben, zurückweichen; und dann wiederum wird uns bei
der Stelle, wie die Vögel des Himmels geschaffen werden,
von der Musik gleichsam die Vorstellung aufgedrängt, daß
die Luft von dem Geflatter unzähliger Schwingen erfüllt
sei. Es ist, als ob sich der Künstler einer Palette bediente,
auf der sich anstatt der Farben die Töne der Tonleiter befinden
, und fortführe, sie in einer Weise zu verbinden, um
auf dem Kanevas unserer Phantasie herrliche Szenerien
und dramatische Vorgänge erstehen zu lassen, und das so
traumhaft und duftig, daß ihr Einfluß fast geistiger Art zu
sein scheint.
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