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838 Psychische Studien. XXXVII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1910.)
Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß derpsychi-
scheEinfluß der Musik, durch die ihr wahrscheinlich
eigentümliche Kraft, vermöge ihres Tonfalls (Kadenz),
Tempos und Rhythmus, eine hypnotisch e W i r k -
u n g auf den öeist auszuüben, noch gesteigert werden
kann. Das musikalische Zeitmaß übt, wie mich dünkt, auf
das Ohr dieselbe pulsative Wirkung aus, wie sie ein gleichmäßig
wiederkehrender Effekt, z. B. die von einem rotierenden
Spiegel ausgehende Wirkung auf das Auge hervorbringt
, was weiter bewirkt, daß der Geist gegen die
störenden Einflüsse von außen mehr oder weniger unempfänglich
gemacht und in einen Zustand von
Passivität versetzt wird, wodurch der Komponist die
Macht erhält, durch die vermittelnde Kraft der Musik auf
den unter seine Herrschaft gebrachten Geist einzuwirken
ihm so jene Schauplätze und Vorgänge zu suggerieren
, welche zu vergegenwärtigen er beabsichtigt, und
jene Gemütsbewegungen hervorzurufen, die erregt werden
sollen.
Diese eine Art Somnambulismus erzeugende Kraft der
Musik scheint sich besonders in Bezug auf gewisse Personen
zu entfalten, wenn sie, wie dies beim Tanzen der Fall ist,
von rhythmischen Bewegungen des Körpers begleitet ist.
Ich denke, es werden viele, die es im Tanzen zu einer gewissen
Vollendung brachten, die Erfahrung gemacht haben,
daß unter günstigen Umständen ein unterbewußter
Zustand („state of subconseiousness") herbeigeführt wird,
in dem die Musik gleichsam selbst im Besitze des Bewußtseins
zu sein scheint, zugleich aber im Besitze der Macht,
alle Arten von traumhaften Bildern und eine wechselnde
Folge von angenehmen Gefühlen je nach Art der Komposition
zu suggerieren.*) Die Benützung des Einflusses, den
die mit Tanz verbundene Musik besitzt zur Herbeiführung
gewisser ekstatischer Zustände, ist eine von altersher bekannte
Tatsache.
Ob das Werk eines berühmten Malers ebenso imstande
ist, Musik zu suggerieren, vermag ich nicht zu entscheiden;
doch erscheint es mir nicht ausgeschlossen, daß dem so sei.
Ich glaube nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß es
Werke hervorragender Musiker gibt, welche die Inspiration
*) Vielleicht liefert H. Zschokke in seinen „Verklärungen*
eine richtige Schilderung dieses Zustandes, wenn er sagt: „Ich
schien von allem Irdischen befreit, mit den Flügeln der Seele auf
den Wellen der Töne zu schweben. Ich wußte nicht, was um mich
her geschah: wußte nicht, daß wir beide die Aufmerksamkeit aller
Zuschauer gefesselt hatten.«
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